An den Fronten, die wir bisher besprochen haben, sind nach Lage der Dinge, nach der Klassenschichtung und nach dem Verhältnis der auf beiden Seiten zur Verfügung stehenden Truppen in den nächsten Tagen und Wochen Siege zu erwarten. Die Hauptsache ist zunächst, dass wir unsere Macht im Osten stabilisieren und mit den Weißen so schnell wie möglich aufräumen.
Wir müssen Kräfte freibekommen, um sie für den Kampf im Westen umgruppieren zu können. Erst wenn uns das gelungen ist, werden wir imstande sein, dem Vormarsch des Feindes auch im Westen wirksam zu begegnen. Die Lage im Süden ist noch reichlich ungeklärt. Das Hauptgewicht müssen wir darauf legen, die Linie Mur—Drau— Donau als Aufnahmestellung auszubauen und gegen alle Angriffe zu halten. Das können wir, Genossen, dazu sind wir stark genug. Alle in Ungarn und in den Karpatenländern neugebildeten Formationen der Roten Armee sind angewiesen, in dieser Linie aufzumarschieren und sich dem Kommando des Stabes der West-Donauarmee zu unterstellen.
Die Wiener Volksarmee übernimmt die Verteidigung des Frontabschnittes Linz bis nördlich Marburg. Auf die roten Truppenteile in Polen und in Tschechien können wir zunächst bei der Verteidigung unserer Außenfronten noch nicht rechnen. Sie müssen sich erst konsolidieren und im Lande bleiben, um die immer wieder aufflackernden weißen Aufstände zu unterdrücken. Wir kommen nun zu der am meisten gefährdeten Stelle, zur Westfront. Hier sind wir auf die Rheinlinie zurückgegangen. Wir werden dem Gegner den Rheinübergang so schwer wie möglich machen. Wir dürfen uns aber nicht der Illusion hingeben, dass wir die Rheinlinie lange halten können.
Aus zwei Gründen.
Erstens: Die Westarmee hat im Weltkriege Entsetzliches erduldet. Ihre Bestände wurden in den letzten Monaten des Weltkrieges furchtbar dezimiert. Die Truppen sind erschöpft. Zu einem Teil sind sogar die Kampfverbände völlig aufgelöst. Trotzdem haben sich die Mannschaften der Nachhut in den letzten Tagen nach dem Bruch des Waffenstillstandsabkommens bewundernswert geschlagen. Wir dürfen uns aber dadurch nicht täuschen lassen. Wir müssen die Widerstandsfähigkeit und die Kampfkraft der Westarmee richtig einschätzen und uns die besonderen Gründe der letzten Erfolge vor Augen halten. Welche Wirkung die Revolution auf die Kampfkraft der Truppen gehabt hat, können wir noch nicht feststellen. Wir dürfen diese Wirkung aber nicht zu hoch einschätzen. Die Truppen standen vor der Alternative: Gefangennahme oder Kampf. Etwas anderes gab es nicht. Auch eine Flucht hätte unweigerlich mit der Gefangennahme geendet. Der Rückzug über den Rhein ist nur möglich, wenn der Übergang militärisch gesichert wird. Außerdem herrschte starke Erbitterung über den Abbruch des Waffenstillstandes und über die Beschießung kampflos abmarschierender Truppen. Hinzu kam, dass die am Kampf beteiligten Vorhuttruppen der Entente den deutschen Nachhuttruppen nicht sehr überlegen waren. Schwere Artillerie war fast gar nicht am Kampf beteiligt. Auch unter den Ententetruppen herrschte starke Empörung über den Abbruch des Waffenstillstandes und über den Befehl, auf friedlich abmarschierende Truppen zu schießen. Außerdem waren sie auf Widerstand nicht gefasst. Ihre Angriffe waren lau und energielos. Das Feuer schwach. Die Truppen scheinen sich teilweise am Feuergefecht überhaupt nicht beteiligt zu haben. Unsere Proklamationen sind offenbar nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Zur offenen Meuterei ist es allerdings, soviel bekannt wurde, noch nirgends gekommen.
Das ist der zweite Grund. Die Ententetruppen sind noch nicht genügend demoralisiert. Solange sie auf dem linken Rheinufer stehen, werden sie ihren Offizieren noch gehorchen. Solange aber das technisch gewaltig überlegene, vorzüglich proviantierte Heer der Entente seinen Kampfgeist nicht eingebüßt hat, von unserer Propaganda noch nicht zersetzt ist, werden wir zwar vorübergehende Erfolge erzielen, uns aber auf die Dauer nicht behaupten können.
Ich gebe nun einem Delegierten der Westfront das Wort zu einem eingehenden Bericht über die Kampflage."
Der Delegierte der Westfront:
Genossen! Nachdem die Gefahr der Umzingelung für den Nordflügel der Westarmee abgewehrt war, erwiderten wir das Feuer der Ententetruppen zunächst an keiner Stelle mehr. Plötzlich stießen die Ententetruppen auf energischen Widerstand in der Linie Aachen, Fluss Kyll, Kaiserslautern, Kehl. Diese Linie hatten wir zur Deckung des Rückzuges ausgesucht. In zweitägigen Kämpfen gelang es den Ententetruppen nicht, diese Linie zu durchbrechen. Trotzdem setzten wir den Rückzug fort. Der Gegner rückte zuerst zögernd nach, stieß aber dann auf starken Widerstand in der Linie Aachen — Bonn, wo wir uns bis gestern trotz immer wieder verstärkten Angriffen gehalten haben. Die Eisenbahnanlagen von Trier sind von unseren Truppen beim Rückzuge gesprengt worden. Die im Moseltal vorrückenden Ententetruppen begegneten zuerst bei Berncastel vorübergehendem Widerstand und wurden dann vor Cochem ganz aufgehalten. Wir hatten den großen Eisenbahntunnel bei Cochem an mehreren Stellen gesprengt. Zugleich wurden im Vorort Sehl bei Cochem an günstigen Stellen die rechts und links der Mosel laufenden Moselstraßen durch Bergsprengung ungefähr 30 Meter hoch verschüttet. Durch diese Maßnahmen und durch die strategisch gute Lage gelang es einer einzigen deutschen Division, Cochem gegen eine zuletzt mindestens zehnfache Übermacht bis heute nacht zu verteidigen. Wegen Umzingelungsgefahr ist diese Division jedoch aufgefordert worden, sich unter Vornahme weiterer Sprengungen auf Koblenz zurückzuziehen. Auf der Strecke Bonn —Bingen ist der Rheinübergang fast überall vollzogen. In der Linie Bingen—Kreuznach—Kehl ist es uns gelungen, den Gegner solange aufzuhalten, bis das Gros der deutschen Truppen den Rhein überschritten hatte. Der Rückzug wurde zuerst vom Gegner nicht bemerkt, der mit Rücksicht auf seine schweren Verluste schon begonnen hatte, sich einzugraben, und unsere verlassenen Stellungen noch mehrere Stunden lang mit Trommelfeuer belegte. Von morgen früh ab ist der Rhein die Grenze zwischen den beiden Armeen. Jeder Versuch der Gegner, den Rhein zu überschreiten, wird von uns hartnäckig bekämpft werden. Alle Versuche der Franzosen, vom Elsass aus in Baden einzudringen, sind bisher abgeschlagen worden. Anders ist die Lage im Norden.
Nachdem alle Versuche, die Front Aachen—Bonn zu durchbrechen, scheiterten, hat die Entente die holländische Neutralität gebrochen und ist uns nach Durchquerung des Maastrichtzipfels in den Rücken gefallen. Es gelang der gegnerischen Vorhut, in München-Gladbach einzudringen, das aber von zwei deutschen Divisionen, die bei Wesel den Rhein überschreiten sollten, sofort wieder genommen wurde.
Wir haben daraufhin Aachen gestern morgen aufgegeben. Die Front wird jetzt ungefähr in folgender Linie gehalten: Deutsche Grenze, Kanal München-Gladbach—Rheydt, Düren, Bonn. Die Gefahr einer großen Umzingelung scheint abgewendet zu sein. Wenn der im Gang befindliche Angriff auf Rheydt und München-Gladbach Erfolg haben und zum Durchbruch führen sollte, ist damit zu rechnen, dass 4 bis 5 deutsche Divisionen abgeschnitten und gefangen genommen werden. In ungefähr 48 Stunden wird der Rheinübergang auch im Norden überall vollzogen sein. Der Zentralrat der Roten Arbeiterwehren im Ruhrgebiet hat beschlossen, die Rheinlinie unter allen Umständen zu verteidigen. Zusammenfassend glaube ich sagen zu können, dass wir stark genug sind, die Rheinlinie von der holländischen Grenze bis Basel gegen alle Angriffe zu verteidigen. Da die niederländische Neutralität jedoch kampflos aufgegeben worden ist, besteht die Gefahr, dass unser rechter Flügel nördlich des Rheins umgangen wird. Die Verteidigung der langen ungeschützten Nordgrenze vom Rhein bis zur Nordsee würde uns sehr schwer fallen. Wir haben deshalb sofort eine Note an die niederländische Regierung gerichtet und sie ersucht, den Schutz der holländischen Neutralität selbst aufzunehmen, da wir uns sonst gezwungen sähen, auch in Holland einzumarschieren. Als Verteidigungsstellung in Holland käme die wegen ihrer Kürze wertvolle Linie Wageringen—Zuidersee oder eine Stellung entlang der Yssel in Frage."
Lenin: „Nach diesem Bericht könnten wir annehmen, dass wir imstande seien, die Rheinlinie zu halten. Ich teile diesen Optimismus nicht. Ich bestehe vielmehr darauf, dass unverzüglich alle Maßnahmen getroffen werden, damit ein vielleicht notwendig werdender Rückzug sich nicht zur Katastrophe auswächst. Es handelt sich um folgende Maßnahmen:
1. Eine neue Verteidigungslinie muss festgelegt und ausgebaut werden.
2. Das eventuell zu räumende Gebiet ist von jeglichem rollenden und Kriegsmaterial zu entblößen. Die Zerstörung aller Anlagen, die den einrückenden Gegnern von Nutzen sein können, ist vorzubereiten.
3. Alle Ersatztruppenteile und neugebildeten roten Formationen müssen marschbereit gehalten werden, um jederzeit