»Das war wirklich eine ganz vorzügliche Idee von mir«, sagte Mrs. Bennet mehr als einmal im Laufe des Abends; als ob der Regen ausschließlich ihr Werk sei.
Aber erst am nächsten Morgen durfte sie alle Früchte ihrer weisen Vorbedacht ernten. Man hatte gerade das Frühstück beendet, als ein kurzes Schreiben von Netherfield für Elisabeth gebracht wurde:
»Liebste Lizzy!
Mir geht es heute morgen gar nicht gut, wahrscheinlich, weil ich gestern bis auf die Haut durchnäßt hier ankam. Die lieben Freunde hier wollen von meiner Rückkehr nichts hören, bis ich mich nicht wohler fühle. Sie haben auch darauf bestanden,
Doktor Jones zu holen; beunruhigt euch also nicht, wenn ihr hört, er habe mich untersucht; bis auf ein wenig Hals-und Kopfschmerzen fehlt mir bestimmt nichts.
Deine Schwester J.«
Elisabeth fühlte sich aber ernstlich besorgt und war fest entschlossen, zu ihrer Schwester zu gehen, obgleich der Wagen nicht zur Verfügung stand; und da sie nicht reiten konnte, hatte sie keine andere Wahl, als den Weg zu Fuß zu machen. Sie teilte ihrer Familie ihren Entschluß mit.
»Wie kannst du so töricht sein«, rief ihre Mutter aus, »bei diesem schmutzigen Wetter auch nur daran zu denken! Stell’ dir vor, wie du ausschauen wirst, wenn du dort anlangst! Du wirst dich nicht sehen lassen können!«
»Vor Jane werde ich es wohl können; und nur ihrethalben gehe ich ja hin.«
»Das soll wohl ein Wink sein«, sagte Mr. Bennet, »daß ich eigentlich die Pferde von der Arbeit holen könnte.«
»Nein, bestimmt nicht, Vater! Ich mache gern den Weg. Es ist ja gar keine Entfernung, nur drei Meilen. Zum Essen bin ich sicher wieder zurück.«
»Obzwar ich deiner tatkräftigen Nächstenliebe meine Bewunderung nicht versagen möchte«, bemerkte Mary, »so kann ich dennoch nicht billigen, daß du deine Gefühle deiner gesunden Vernunft überordnen willst. Meiner Meinung nach ist jede Handlung ungerechtfertigt, wenn sie in einem Mißverhältnis zum gewünschten Ergebnis steht.«
Es störte Mary gar nicht, daß, während sie noch dozierte, Lydia und Catherine der älteren Schwester ihre Begleitung bis Meryton angeboten hatten und daß die drei sich schon zum Gehen fertig machten.
»Wenn wir uns ein wenig beeilen«, meinte Lydia, als sie aufbrachen, »treffen wir vielleicht noch Captain Carter, ehe er nach London fährt.«
In Meryton trennten sich die Geschwister; die beiden jüngeren besuchten eine der Offiziersdamen, und Elisabeth setzte ihren Weg allein fort; ein Feld, eine Wiese nach der anderen mußte sie überqueren, hier einen Zaun nehmen, da über eine Pfütze springen, alles in ungeduldiger Eile, bald an ihr Ziel zu gelangen, bis sie endlich mit müden Füßen, beschmutzten Strümpfen und erhitztem, glühendem Gesicht vor Netherfield anlangte.
Ihr Erscheinen im Wohnzimmer, wo alle außer Jane versammelt waren, rief beträchtliches Erstaunen hervor. Daß sie so früh am Tage, bei solchem Wetter und dazu noch allein den weiten Weg gemacht haben sollte, kam Mrs. Hurst und Caroline fast unglaublich vor; und Elisabeth merkte, daß sie deshalb in der Achtung der beiden Damen gesunken war. Immerhin, sie wurde sehr höflich empfangen; und in der Art, wie Mr. Bingley sich um sie kümmerte, lag mehr als bloße Höflichkeit, lagen Anerkennung und Freundlichkeit. Mr. Darcy sagte sehr wenig und Mr. Hurst gar nichts. Jener bewunderte wohl die strahlende Frische des jungen Gesichts, bezweifelte aber andererseits die Notwendigkeit, nur einer erkälteten Schwester wegen allein einen so weiten Weg zu machen, und er war sich nicht recht einig, welcher Regung er den Vorzug geben sollte. Mr. Hurst dagegen dachte ausschließlich an sein Frühstück.
Die Antworten auf ihre Fragen nach Janes Befinden klangen nicht sehr beruhigend. Miss Bennet habe eine unruhige Nacht verbracht, sei jetzt zwar auf, fühle sich aber fieberig und nicht wohl genug, um herunterzukommen. Elisabeth war es sehr recht, daß sie sogleich hinaufgeführt wurde; und Jane, die nur aus Besorgnis, ihre Familie könne sich ängstigen, in ihrem Brief nicht den Wunsch nach Besuch geäußert hatte, lächelte der Eintretenden hocherfreut entgegen. Sprechen strengte sie jedoch zu sehr an, so daß sie, nachdem Miss Bingley wieder gegangen war, sich darauf beschränkte, leise für die große Freundlichkeit zu danken. Elisabeth setzte sich schweigend zu ihr.
Nach dem Frühstück machten die beiden Gastgeberinnen einen Besuch bei der Kranken. Elisabeth fing an, einiges Gefallen an ihnen zu finden, als sie sah, mit welcher Liebe und Besorgnis sie sich um Jane bemühten. Später kam auch der Landarzt und stellte nach der Untersuchung, wie zu erwarten war, die Diagnose auf eine schwere Erkältung; er empfahl, alles anzuwenden, was zur Besserung beitrage. Vor allen Dingen müsse sie das Bett hüten; eine Medizin werde er schicken. Jane folgte willig seinem Rat; denn das Fieber hatte zugenommen, und ihr Kopf schmerzte zum Zerspringen. Elisabeth verließ das Zimmer nicht einen Augenblick. Auch die beiden Damen waren nicht oft abwesend; denn da die Herren ausgeritten waren, langweilten sie sich ohnehin.
Als die Uhr drei schlug, erklärte Elisabeth sehr widerstrebend, nun gehen zu müssen. Caroline bot ihr den Wagen an, und sie hätte das freundliche Anerbieten auch gern angenommen, aber Jane zeigte sich so betrübt über ihr Weggehen, daß Caroline sich wohl oder übel dazu entschließen mußte, ihr statt des Wagens die Gastfreundschaft auf Netherfield für einige Tage anzubieten. Elisabeth nahm voll Dankbarkeit an, und ein Diener wurde nach Longbourn geschickt, um die Familie zu benachrichtigen und um einige Kleidungsstücke zu holen.
8. KAPITEL
Um fünf Uhr zogen sich Caroline und ihre Schwester zurück, um sich umzukleiden, und um halb sieben rief der Gong Elisabeth zu Tisch. Auf die höflichen Nachfragen, die sich überstürzten und unter denen sie zu ihrer Freude die aufrichtige Besorgnis Mr. Bingleys herauszuhören vermochte, konnte sie keine befriedigende Antwort geben. Janes Befinden hatte sich in keiner Weise gebessert. Die beiden Schwestern versicherten hierauf drei-oder viermal, wie sehr es sie bekümmere, das zu hören, wie scheußlich es sei, eine Erkältung zu haben, und wie ungern sie selber krank seien; und damit hatte sich das Thema für sie erschöpft. Diese Gleichgültigkeit gegen Jane, sobald sie sie nicht vor Augen hatten, erlaubte Elisabeth, ihrer Abneigung, die sie von Anfang an gegen die beiden Damen empfunden hatte, wieder unvermindert Raum zu geben.
Mr. Bingley war tatsächlich der einzige von der ganzen Tischgesellschaft, den sie mit freundlichen Augen betrachten mochte. Seine Sorge um Jane war ganz offensichtlich und seine Aufmerksamkeit ihr selbst gegenüber äußerst wohltuend, zumal sie ihr darüber hinweg half, sich wie ein lästiger Eindringling vorzukommen, als den die anderen – davon war sie überzeugt – sie betrachteten.
Das heißt, man beachtete sie gar nicht. Caroline hatte nur Augen und Ohren für Darcy; ihre Schwester, Mrs. Hurst, nicht weniger; und Mr. Hurst, neben dem Elisabeth saß, war ein stumpfsinniger Mensch, der sich für nichts als Essen, Trinken und Karten interessierte; nachdem er erfahren hatte, daß sie gewöhnliche Hausmannskost französischer Küche vorzog, wurde zwischen ihnen kein weiteres Wort mehr gewechselt.
Nach dem Essen kehrte sie sogleich zu Jane zurück. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, begann Caroline sich höchst abfällig über sie zu äußern. Ihr Benehmen müsse wirklich als sehr schlecht bezeichnet werden, es sei eine Mischung von Hochmut und Ungezogenheit; sie verfüge weder über Unterhaltungsgabe, noch über Manieren oder Geschmack. Und schön sei sie auch nicht.
Mrs. Hurst war derselben Meinung und fügte noch hinzu: »Kurz gesagt; es fehlt ihr jede Eigenschaft, die sie liebenswert machen könnte, falls man nicht ihre Vorliebe für Fußmärsche als eine solche bezeichnen will. Ich werde mein Leben lang nicht den Anblick von heute morgen vergessen; sie sah aus wie eine Wilde!«
»Ja, unglaublich«, pflichtete ihr Caroline bei. »Ich konnte kaum an mich halten, etwas zu sagen. Wie töricht von ihr, überhaupt herzukommen! Was braucht sie durch den Regen und Schmutz herzuwaten, bloß weil ihre Schwester eine kleine Erkältung hat?