So jung Hat-schepsut mit ihren zwölf Jahren auch war, so hatte sie dennoch sehr wohl verstanden, dass dies offenbar ein Abschied für immer sein sollte. Gewiss, ihre Sitti war über achtzig Jahre alt und Hat-schepsut wusste von niemandem in ganz Kemet, der noch älter war als sie. Und so sehr Ah-hotep ihre Urenkelin auch liebte ‑ für Hat-schepsut gab es daran nicht den geringsten Zweifel ‑, so sehr verachtete sie jedwede Art von Rührseligkeiten. Was geschehen musste, hatte zu geschehen. Wozu Tränen vergießen, die schließlich doch zu keinem anderen Ergebnis führen würden. Ja, Ah-hotep konnte erbarmungslos sein, auch und gerade gegen sich selbst. So hatte sie gestern Abend offenbar ganz nüchtern für sich selbst entschieden, dass es ihr Hinüberwechseln in die jenseitige Welt war, das in dieser Nacht anstand. Schon längst hatte sie darauf gewartet, dass es irgendwann einmal soweit sei. Nun fühlte sie, dass der Zeitpunkt gekommen war.
Hat-schepsut war wie gelähmt, als ihr Ah-hotep den Affen auf die Schulter setzte. Im Gesicht ihrer Sitti konnte sie lesen, dass Ah-hotep keinerlei Widerspruch dulden würde. Dennoch hoffte Hat-schepsut inständig, dass ihre Urgroßmutter sich getäuscht hätte. Wünschte sie sich doch so sehr, dass ihre Sitti noch viele Tage, Wochen und Monate bei ihr im Diesseits bleiben möge. Also hatte Hat-schepsut die ganze Nacht über zu Osiris gebetet und natürlich auch zu Amun, sie mögen ihre Urgroßmutter zurückweisen, wenn sie Einlass ins Jenseits begehre. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie noch nie davon gehört hatte, dass jemals irgendjemand zurückgeschickt worden sei. Aber vielleicht würden die Götter bei einer solch großen Frau wie Ah-hotep eine Ausnahme machen. Dies war allerdings die letzte Hoffnung, die Hat-schepsut noch geblieben war.
Wie sehr würde sie die Abende voller Erzählungen mit ihrer Sitti vermissen! Oder ihre gemeinsamen Ausflüge auf die andere Seite des Nils, wo all die großen Pharaonen ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Ah-hotep hatte all deren Regierungszeiten miterlebt - in achtzig langen Jahren. Ihr Vater Senacht-en-Re lag dort begraben, die Brüder Seqen-en-Re und Ka-mose, ihr Sohn Ah-mose, der Kemet endgültig von den Fremdherrschern befreit hatte und ihr Enkel Amun-hotep, unter dem Kunst und Wissenschaft zu neuer Blüte erwacht waren. Hat-schepsut wusste sie alle aufzusagen und auch die Errungenschaften eines jeden Einzelnen zu benennen, war doch ein jeder von ihnen ihr direkter Vorfahr. Ihr Vater legte großen Wert darauf, dass sie alle kannte, denn sie waren, wie er seiner Tochter immer wieder ins Gedächtnis rief, ihre Großeltern, ihre Urgroßeltern und Ururgroßeltern, die jeder auf seine Weise das Schicksal Kemets mitbestimmt hatten. Inzwischen waren sie alle zu Göttern geworden. Hat-schepsut und vor allem ihr kleiner Halbbruder Thot-mose würden sich, in allem was sie taten, vor jedem der Ahnen beweisen müssen. Ja, bis in alle Ewigkeit würde man beide an ihren Vorgängern messen. Thot-mose hatte vor kaum etwas mehr Angst. Er wurde jedes Mal bleich, wenn die Rede auf seine zukünftige Herrschaft kam. Und auch Hat-schepsut wurde es ganz bang bei der Vorstellung, bald am Grab ihrer Sitti zu stehen und dort auf Antworten hoffen zu müssen, welche die vielen Fragen aufwarfen, von denen sie wusste, dass sie unweigerlich spätestens dann kommen würden, sobald sie Verantwortung trug. Sie würde Ah-hoteps Antworten ‑ begleitet von ihrem pfiffigen Blick und der sparsamen Mimik ‑ niemals mehr erfahren. Ja, sie würde ganz ohne den Rat und die Unterstützung ihrer Sitti auskommen zu müssen. Hat-schepsut fühlte sich auf einmal einsam und verlassen.
Glücklicherweise gab es da noch Sit-Re, Hat-schepsuts einstige Amme, die inzwischen ihre Leibdienerin war und die für etwas Herzenswärme sorgte. Die Prinzessin liebte sie von ganzem Herzen. Doch wie anders war sie ihrer Sitti zugetan. Hat-schepsut bewunderte, ja, vergötterte die alte, weise Frau. So wie sie wollte sie später auch einmal sein. Ah-hotep war erhaben, im wahrsten Sinne des Wortes unerschrocken und dabei die Klugheit selbst. Tapfer war sie mit gezücktem Schwert den Feinden gegenübergetreten, hier im Palast von Waset – und hatte sie mit eigenen Händen erschlagen. Man erzählte, dass der Boden rot gewesen sei vor Blut. In manch einer Nacht träumte Hat-schepsut von dem weißen Boden, auf dem das Blut sich unablässig ausbreitete, als wollte es die ganze Welt bedecken. Insbesondere, wenn sie mit Fieber daniederlag, verfolgte sie dieser Traum hartnäckig. Für ihr Kemet und den jeweiligen Pharao hatte Ah-hotep alles getan, was nötig war. Auf alles hatte sie eine Antwort, was Hat-schepsut immer am meisten beeindruckte. Und sei es nur, dass sie eingestand, einmal keine Antwort zu haben.
„Wer glaubt, alles zu wissen, ist einfach nur eitel und dumm.“
Dann lachte sie und knuffte Hat-schepsut in die Seite. Ah-hotep war die Einzige, der sich die kleine Prinzessin vollkommen anvertrauen konnte. Gewiss, ihr Vater, Pharao Thot-mose, liebte seine Tochter abgöttisch. Ja, wenn sie aufrichtig war, dann musste sie sich eingestehen, dass es sie mit Stolz erfüllte, wie sehr ihr Vater sie liebte. Und Hat-schepsut, die diese Liebe mit kindlicher Freude erwiderte, wollte unbedingt so sein, wie sie glaubte, dass der Vater sie sich wünschte. Also bemühte sie sich, klug zu sein - und allein dafür schenkte er ihr seine Liebe. Mit ihrer munteren Art brachte sie Pharaos Herz wahrhaft zum Jubeln. Er forderte sie neulich sogar auf, ihm zu widersprechen, wenn sie denn meine, es tun zu müssen. Pharao widersprechen! Nie hätte sie es gewagt. Doch sie, so meinte ihr Vater, dürfe es; zumindest wenn sie unter sich waren. Er tat alles, damit seiner geliebten Tochter der Weg in die Zukunft geebnet sein würde. Es war längst abgemacht ‑ und jeder in Kemet wusste es auch ‑, dass sie ihren Halbbruder, den Thronfolger heiraten würde, um ihm bei seiner schweren Aufgabe beizustehen. Der Vater hatte nie auch nur den geringsten Zweifel daran gelassen, dass sie es sein sollte, die in Zukunft als Große königliche Gemahlin die Geschicke des Landes bestimmen würde, da ihr Brudergemahl in seiner ängstlichen wie kränklichen Art kaum dazu in der Lage sein dürfte. Es gab kaum jemanden in Kemet, der dies nicht für eine weise Entscheidung hielt. Thot-mose war ein lieber, netter Junge. Durch seine hagere, ja, schwächliche Gestalt, vor allem aber durch die schreckliche Hautkrankheit, die seinen Körper entstellte und ihn Ekel erregend stinken ließ, hatte sich sein Selbstbewusstsein jedoch nie recht entwickeln können. Er war immer der Stillste und Bescheidenste bei den regelmäßigen Familienzusammenkünften. Seltsamerweise mochte ihn Hat-schepsut gerade deshalb. Er war frei von jedwedem Arg und dabei so gutmütig, dass Hat-schepsut fest entschlossen war, gut auf ihn aufzupassen. Er dauerte sie aufrichtig, denn Thot-mose war schon zufrieden, wenn er aus Mitleid gemocht wurde. Sie würde auf ihn achtgeben, so wie er auf Ah-hoteps Affen achtgab. Bislang war es immer die alte Ah-hotep gewesen, die ein Auge auf die Dinge hatte. Nichts in der Welt entging ihr und ihr Rat war allseits hochgeschätzt. Selbst die geheimsten Gedanken und Gefühle erahnte sie. So fand sie auch bei Pharao stets ein offenes Ohr. Selbst die Fürsten in Retjenu und Naharina verehrten sie für ihre Weisheit. Und immer wieder hatte sie auch Hat-schepsut Mut zugesprochen.
„Dein Halbbruder wird dein Gemahl und eines Tages schließlich auch Pharao“, hatte sie zu ihr gesagt. „Aber du wirst es sein, die Kemet regiert. Thot-mose ist ein guter Junge, also musst du auf ihn aufpassen, damit er aus Gutmütigkeit nichts Unüberlegtes tut. Glücklicherweise weiß er, dass er dich braucht.“
Und hatte nicht auch ihr Vater, der König, mehr als einmal gesagt, dass sie sowieso der bessere Pharao sei, obwohl sie ein Mädchen war? Die ihr bevorstehende Aufgabe schreckte sie also keineswegs, zumal sie wusste, dass Thot-mose ihr vollkommen vertraute. Manchmal schien es ihr so, als ob er sich sogar ein wenig in sie verguckt habe. Sie würde ihn keinesfalls enttäuschen, denn dies war es ja, wozu sie geboren worden war: Sie hatte Kemet und seinem König zu dienen. Und sie war von ganzem Herzen bereit dazu.
Als die Paviane immer lauter zu kreischen begannen und sich auf den Dächern von Waset versammelten, um die aufgehende Sonne zu begrüßen, hörte Hat-schepsut aufgeregtes Getrampel in den Fluren des Palastes. Eiligst wurde hin und her gelaufen, so dass sie vorsichtig die Tür ihrer Wohnung öffnete und hinausspitzte. In einem der hinteren Höfe des Harems stimmten Klageweiber Trauergesänge an. Hat-schepsut schauderte. Also war in der vergangenen Nacht tatsächlich ein Leben zu Ende gegangen. Schon kam ihre Hausdame angelaufen. Ungeschminkt und mit verweinten Augen warf sie sich vor Hat-schepsut zu Boden.
„Die