„Aber jetzt im Winter musst du hungern“, bedauert ihn das Gespenst.
„Irrtum! Wenn du dich umschaust, wirst du staunen, was es noch alles an köstlichem Grünzeug gibt: Porree, Wirsing, Rosenkohl.“
„Würdest du eventuell die Güte haben, von mir ein Schälchen Milch anzunehmen?“, fragt Stefan Sternenstaub.
„Wenn du mich so freundlich fragst, mag ich nicht nein sagen. Falls es keine allzu große Mühe macht, könntest du sie bitte ein wenig wärmen, wegen der Kälte draußen?“
„Sag, kannst du etwa auch Schwarzer Peter spielen?“ will das Gespenst wissen.
„Selbstverständlich. Wo sind die Karten?“
Der Nachtwächter kramt sie heraus, mischt, verteilt.
Das Gespenstchen verliert. „Du bist der Schwarze Peter“, sagt Stefan Sternenstaub. Aber dann lacht er plötzlich laut auf. „Nein, du bist ein rosa, hahaha, ein rosa Peter.“ Er prustet vor Vergnügen.
Die kleine Spukgestalt sieht ihn vorwurfsvoll an. „Mir wolltest du keinen Glühwein geben, damit ich nicht übermütig werde, und jetzt bist du selbst beschwipst.“
„Aber so sieh doch einmal in den Spiegel“, bringt Mützenkater mühsam hervor und wischt sich die Lachtränen fort.
Das Gespenst geht ins Badezimmer und blickt in den Spiegel über dem Waschbecken. Aber was ist das - es ist ja nicht mehr weiß, kein blasser, kaum sichtbarer Nebel, sondern rosa, wie ein Wölkchen beim Abendrot.
„Der kleine Spuk hat vorhin Himbeersaft getrunken“, erklärt nebenan der Nachtwächter dem Mützenkater. Das Geistchen hört gar nicht hin. Es schwebt vor dem Spiegel auf und ab, dreht und wendet sich und gluckst vor Freude.
Nur schade, am nächsten Abend ist die prächtige rosa Farbe verschwunden. „Gibst du mir wieder ein Glas Himbeersaft?“, bettelt das Gespenst. Da sieht es auf dem Tisch etwas Blaues stehen - ein Glas Tinte; der Nachtwächter hat nämlich vorhin einen Brief geschrieben, Umwelt bewusst wie er ist, nicht mit dem Kugelschreiber, sondern mit einem Füllfederhalter, den er nachtanken musste. Während Stefan Sternenstaub den Himbeersaft zurechtmacht, betrachtet das Gespenstchen die Flasche mit der Aufschrift ‚Königsblaue Tinte’. Auf einmal kann es nicht widerstehen, es schraubt den Deckel ab, hält das Glas an den Mund und trinkt es in einem Zug leer.
Nein, so gut wie der Himbeersaft schmeckt die Tinte nicht, aber das Ergebnis ist überwältigend. Jetzt färbt das Gespenstchen sich blau, es wird zu einer lichten, königsblauen, leichten Wolke. Der Nachtwächter staunt sehr. Er schimpft nicht einmal, weil das Spuknebelchen ohne Erlaubnis seine Tinte getrunken hat. Mützenkater, der sich inzwischen wieder eingefunden hat, klatscht begeistert in die Pfoten.
Es gibt etwas, das liebt das Geistchen fast noch mehr als bunte Farben, Mensch-ärgere-dich-nicht- und Schwarzer-Peter-Spielen, das sind Guten-Tag-Geschichten, die der Nachtwächter beim Morgengrauen, bevor sie sich trennen, erzählt. Diese handeln von den Kleinmeindorfern, von den Besitzern der Häuser, Gartenlauben oder Garagen, in denen die kleine Spukgestalt und neuerdings auch Mützenkater, schlafen.
Manchmal nimmt Stefan Sternenstaub den Lokalteil der Zeitung, die der Bote Bob Rote kurz vor Tagesanbruch bereits verteilt. Das Gespenstchen ist Analphabet, das heißt, es kennt keine Buchstaben. Als es vor drei- oder vierhundert Jahren lebte, genau weiß es selbst nicht mehr wann, brauchten die Kinder noch keine Schule zu besuchen. Darum liest Stefan Sternenstaub vor. Wie unterhaltsam muss es am Tag sein. Jeden Morgen findet der Nachtwächter in seinem Briefkasten eine neue Zeitung mit vielen Blättern und auf jeder Seite wird von aufregenden Ereignissen berichtet. Das Gespenst lauscht immer ganz gespannt, denn bei Nacht erlebt es so wenig. Die Dorfbewohner hocken Abend für Abend vor den Fernsehgeräten oder schnarchen hinter wehenden Gardinen. Das Spuknebelchen sieht die Katzen über die Dächer spazieren, den Mond aufgehen, die Sterne blinken, manchmal regnet es, mal schneit es, sonst geschieht eigentlich kaum etwas. Nicht mal Schnappweg, der Dieb, der die Nachbarorte unsicher macht, ist nachts in Kleinmeindorf unterwegs. Seit genau zehn Jahren übt Stefan Sternenstaub seinen Beruf aus, und seit genau dieser Zeit ist in der Spielwarenfabrik nicht mehr eingebrochen worden - nur weil er so gut aufpasst.
„Das beweist, wie wichtig ich bin“, pflegt der Nachtwächter immer wieder stolz zu sagen. Nur einmal, vor etwa fünf Jahren wollte jemand einen Diebstahl melden. Der Direktor Balthasar Dromedar war zum Bürgermeister Rex König gekommen und hatte erklärt, er durchsuche seit Stunden das Büro nach seiner Brille und könne sie nirgends finden, man müsse sie ihm entwendet haben - dabei trug er sie auf der Nase.
„Du beklagst dich immer, bei Nacht passiere nichts“, sagt Stefan Sternenstaub. „Neuerdings gehen im Wald bei der Burgruine nach Einbruch der Dunkelheit Gespenster um. Wahrscheinlich handelt es sich um Ritter Klaus vom Großen Kloß und seine üblen Kumpanen. Der Förster hat sie gesehen, und ein Hausierer, der in einer Schutzhütte übernachten wollte, hörte sie wimmern und ist vor Schreck davongelaufen. Das steht jedenfalls heute in der Zeitung.“
„Gespenster, richtige, echte Gespenster?“ fragt das Geistchen. Auf einmal wird es sehr still. Es gibt nicht mehr Acht und verliert dauernd beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel.
„Was ist bloß mit dir los?“ knurrt der Nachtwächter.
„Ich überlege“, erwidert die kleine Spukgestalt nur, verabschiedet sich bald darauf und lässt Stefan Sternenstaub allein zurück, denn Mützenkater ist heute nicht gekommen.
Am nächsten Abend schwebt das Gespenst zur üblichen Zeit herein. „Diesmal kann ich mich nicht lange aufhalten. Ich will dir nur Lebewohl sagen.“ In der Hand hält es einen großen Koffer. „Du bist mir doch nicht böse, weil ich dich verlasse? Ich reise in den Wald zur Burgruine, zu den Gespenstern. Dann befinde ich mich endlich unter meinesgleichen.“
„Was hast du in dem Koffer?“ fragt der Nachtwächter.
„Nichts“, erwidert das Nebelgeistchen. „Ich benötige keine Kleider, kein Essen, aber wenn ich schon verreise, dann auch richtig, mit Gepäck, das gehört dazu. Als ich darum vorhin neben einem Mülleimer diesen Koffer sah, habe ich ihn mitgenommen.“
Der Nachtwächter kramt währenddessen in einer Schublade. „Hier habe ich etwas für dich - als Abschiedsgeschenk.“
„Was ist das?“ fragt das Gespenst.
„Ein Malkasten. Sieh, hier sind viele leuchtende Farben drin. Du brauchst nur eine in Wasser aufzulösen und zu trinken, schon siehst du anders aus. Grün, gelb, rot ...“
„... oder sogar golden“, ruft der kleine Spuk entzückt. „Stell dir vor, dann wirke ich noch eleganter als ein König.“
Stefan Sternenstaub ist gerührt über die Freude, die sein Geschenk bereitet. Er legt noch seine Taschenlampe auf den Farbkasten. „Da, nimm sie mit, sie gehört dir, damit du noch etwas hast, das du in deinen Koffer packen kannst. Morgen kaufe ich mir eine neue.“
Da wird das Geistchen ganz verlegen. „Und ich kann dir gar kein Abschiedsgeschenk geben. - Aber vielleicht finde ich bei der Burgruine außer Gespenstern auch noch einen versteckten Schatz. Eines Nachts komme ich dich besuchen und pass auf, dann bringe ich dir Gold mit, den ganzen Koffer voller Goldmünzen.“
Das Spuknebelchen schwebt fort. „Lebe wohl“, ruft es Mützenkater zu, der mit einer Katzendame im grau-schwarz-gestreiften Pelzmantel auf dem Dach sitzt. Doch dieser ist schrecklich verliebt und hört es nicht.
Das Gespenst gleitet aus Kleinmeindorf raus, biegt in den Feldweg ab, vorbei am Hof des Bauern Obersauer, hinein in den stillen dunklen Wald. Es trällert ein Liedchen vor sich hin. Aber seine Geisterstimme hört