Die Krebs-WG. Sara M. Hudson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sara M. Hudson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748587552
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auf andere, lauthals einen Udo-Jürgens-Schlager nach dem anderen zu schmettern. Manchmal auch mitten in der Nacht.

      Als die Nachtschwester nun das Zimmer betrat, hatte sie aber eher das Gefühl zu stören, denn die beiden Patientinnen saßen einvernehmlich am Tisch, spielten Karten und kicherten vergnügt. Sie blickten nicht einmal von ihrem Blatt auf, als sie sie fragte, ob sie noch etwas zum Schlafen bräuchten und beide verneinten. Schwester Daniela wünschte den beiden Frauen eine gute Nacht und nahm auf dem Weg nach draußen Ellens Tablett mit, das noch immer vom Abendessen dastand. Zurück im Schwesternzimmer warf sie verwirrt einen Blick ins Stationsbuch. „Probleme in Zimmer 211. Patientin Bleckmann wünscht verlegt zu werden, weil sie mit Patientin Althoff nicht klarkommt.“ So stand es eindeutig und unmissverständlich im Buch, hatte aber eben nicht danach ausgesehen.

      „Haben Sie denn gar nichts zu Essen bekommen?“ fragte Ellen ihre Mitbewohnerin.

      „Ich werde doch morgen operiert, da krieg ich nichts mehr“, war deren Antwort.

      „Und dann trinken Sie Alkohol?“ fragte Ellen entsetzt.

      „Ja, ja, das geht schon“, beschwichtigte sie diese. „Was soll denn schon passieren? Mehr als sterben kann ich schließlich nicht.“ Missbilligend schüttelte Ellen den Kopf. Schon wieder so eine sarkastische Bemerkung.

      „Wie haben Sie ihn eigentlich bemerkt?“ wollte Frau Althoff wissen.

      „Bemerkt? Den Krebs?“ fragte Ellen. Frau Althoff nickte und nahm einen großen Schluck von ihrem Glas. Ellen atmete tief ein. Die Erinnerung an diesen Tag vor ungefähr sechs Wochen war schmerzhaft.

      „Ich hab’s beim Duschen gemerkt. So eine Beule unter der Achsel, die ich beim Abtrocknen spürte. Ich habe erst so ein bisschen daran herumgedrückt und dann meine Brust abgetastet. Da bemerkte ich einen weiteren Knoten. Erst dachte ich, ich bilde mir das ein, dann habe ich alles auf den Stress in der Arbeit geschoben. Geschwollene Lymphknoten hat schließlich jeder mal. Ich dachte einfach, dass ich da wohl eine Grippe ausbrütete.“

      „Sind Sie nicht gleich zum Arzt gegangen?“ fragte Frau Althoff.

      „Das war ja das Problem“, sagte Ellen bitter. Ich habe es erst einmal verdrängt und noch ganze vier Wochen gewartet, bis ich endlich zu meiner Frauenärztin gegangen bin.“

      „Aha, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht“, meinte Josephine und legte ihre Karten auf den Tisch.

      „Wie meinen Sie?“ wollte Ellen wissen.

      „Ich kenne Sie zwar erst seit ein paar Stunden, aber Sie scheinen mir eher der Mensch, der sofort einen Arzt aufsucht, wenn er merkt dass etwas nicht stimmt. So kann man sich täuschen.“

      „So ganz falsch schätzen Sie mich da nicht ein“, gab Ellen zu. „Ich wäre normalerweise wirklich sofort zum Arzt gegangen. Man liest ja auch immer wieder, dass man das ab einem gewissen Alter vorsorglich regelmäßig tun sollte. Aber in der Arbeit war gerade einfach zu viel los. Da konnte ich doch nicht….“ Sie hielt inne und dachte daran, ob es wohl einen Unterschied gemacht hätte, wenn sie sechs Wochen früher hierher gekommen wäre.

      „Ah, die Arbeit!“ sagte Frau Althoff. „Wie nett von Ihnen, Ihre Bedürfnisse für die Arbeit zurückzustellen. Ich hoffe, Ihr Chef wird es Ihnen danken. Was machen Sie denn?“ Ellen ging nicht auf die zynische Bemerkung ihrer Zimmergenossin ein und antwortete: „Ich bin in der Werbung tätig. Naja, um genau zu sein, bin ich die zweite Geschäftsführerin einer kleineren Werbeagentur. Das ist sehr stressig. Wenn man da mal eine Weile aussetzt, ist man weg vom Fenster. Man steht in ständigem Konkurrenzkampf mit jungen Kollegen, die frisch vom Studium kommen und mit den neuesten Techniken vertraut sind. Da muss man mit 48 Jahren schon schauen, dass man den Anschluss nicht verpasst. Mein Chef hat hohe Ansprüche und, obwohl ich schon zwanzig Jahre für ihn arbeite und viel Erfahrung habe, hatte ich in letzter Zeit immer das Gefühl, dass er mich loshaben wollte.“

      „Wie das?“ fragte Frau Althoff interessiert.

      „Naja, er hat immer solche Bemerkungen gemacht, wie wichtig es sei, auf dem neuesten Stand zu bleiben. Dabei hatte ich immer das Gefühl, dass er dabei mich meinte. Außerdem lobte er die jüngeren Mitarbeiter für jede Kleinigkeit, beachtete mich aber kaum noch. Bei wichtigen Entscheidungen stellte er mich immer öfter vor vollendete Tatsachen, statt Dinge mit mir abzusprechen. Vielleicht habe ich mir das alles auch nur eingebildet. Jedenfalls habe ich die letzten Monate deshalb noch härter gearbeitet als sonst, habe freiwillig Überstunden geschoben, bin auf eigene Kosten auf Fortbildungen gegangen und habe mir kaum eine freie Minute gegönnt. Dabei habe ich eben auch die Alarmzeichen meines Körpers ignoriert.“

      „Kommt mir irgendwie bekannt vor“, sagte Frau Althoff lächelnd. „Wann sind sie dann zum Arzt?“

      „Als die Knoten nicht weggingen, holte ich mir dann endlich einen Termin bei meiner Frauenärztin. Das war vier Wochen nachdem ich sie entdeckt hatte.“ Frau Althoff zog die Augenbrauen nach oben.

      „Die war gleich bei der Untersuchung beunruhigt und redete von einer Verdichtung des Gewebes. Selbst dann sah ich den Ernst der Lage nicht. Was sollte schon sein? Ich wollte mich einfach nicht verrückt machen lassen. Als dann letzte Woche die Ergebnisse der Biopsie zurückkamen, hatte ich den Salat.“

      „Und dann mussten Sie, ob sie wollten oder nicht, die Arbeit loslassen, von der Sie so unentbehrlich zu glauben schienen“, ergänzte Frau Althoff Ellens Geschichte.

      „Mein Chef war sehr verständnisvoll und sagte, dass die Arbeit warten könne und ich erst einmal gesund werden solle.“

      „Sie meinen, dann war Ihre Tätigkeit doch nicht so wichtig, wie sie dachten? Erstaunlich.“

      „Können Sie eigentlich nichts ernst nehmen?“ fragte Ellen gereizt.

      „Das habe ich, leider viel zu lange, “ rief Frau Althoff bitter. „Wissen Sie, ich habe auch viel zu viel Zeit in meinem Leben damit zugebracht, mich für andere aufzureiben und das ganz ohne Kinder und Familie. Ich hatte, ähnlich wie Sie, eine Führungsposition in einer großen Firma. Mein Mann war dort Prokurist. Tag und Nacht haben wir gearbeitet und viel zu wenig Zeit zusammen verbracht. Wir hatten uns gegen Familie entschieden, weil uns unsere Karrieren wichtiger waren, Geld anhäufen, unabhängig sein. Nur selten haben wir uns einen längeren Urlaub gegönnt. Aber wenn, dann richtig. Luxusurlaub der besonderen Klasse. Die Hotels konnten gar nicht genug Sterne für uns haben. Aber die Urlaube waren kurz. Maximal zwei Wochen, denn wir waren in der Arbeit ja unabkömmlich. Im Ruhestand, da wollten wir dann all das tun, wofür wir uns nie Zeit genommen hatten: monatelange Kreuzfahrten, Weltreisen und, und, und.

      Schon wenige Monate, nachdem mein Mann in den Ruhestand getreten war, bekam er die Diagnose: Darmkrebs. Zunächst sah es ganz gut für ihn aus. Aber am Schluss hat er den Kampf dann doch verloren. Typisch, nicht wahr? Jeder schiebt die schönen Dinge des Lebens immer auf den Ruhestand hinaus. Mir wird das nicht passieren, denkt man leichtsinnig. Ich werde schon gesund bleiben.

      Bei meinem Mann und mir hat das leider nicht geklappt.“

      Ellen sah Frau Althoff nachdenklich an.

      „Tut mir leid, dass das alles so für Sie gelaufen ist“, sagte Ellen voller Mitgefühl. Die Frau hatte nun schon wirklich viel mitgemacht und stellte sich dabei nicht so an, wie sie selbst.

      Frau Althoff griff schweigend zur Saftflasche und schenkte ihnen beiden nach. Sie prosteten sich zu und widmeten sich dann wieder ihrem Kartenspiel.

      3

      „Nennst du mich jetzt endlich Josephine?“, wollte Frau Althoff wissen, als sie am nächsten Morgen auf die Visite warteten. „Wer einen so haushoch beim Canasta schlägt, darf einen nicht mehr siezen. Oder hast du etwa geschummelt?“ „Geschummelt? Sie, ich meine du hast mich doch gewinnen lassen. Ich heiße übrigens Ellen.“ Trotz der schlimmen Nachrichten vom Vortag hatte Ellen wunderbar schlafen können, auch ohne Schlafmittel. Oder hatte das der Port von Josephine bewirkt? Gemeinsam hatten sie doch tatsächlich die ganze „Saftflasche“ geleert.

      Kurze Zeit später betrat der Chefarzt begleitet von