Die Krebs-WG. Sara M. Hudson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sara M. Hudson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748587552
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Bestimmt nicht so vital wie die strickende Frau hier und auf keinen Fall Ende vierzig wie sie selbst. „Ich bin 68 Jahre und vier Monate alt“, sagte die Frau, als hätte Sie gewusst, dass Ellen über ihr Alter rätselte. „Mit etwas Glück erlebe ich den nächsten Geburtstag noch, aber allzu große Hoffnungen mache ich mir da nicht.“ „Sie nehmen die Sache ja ganz schön locker“, meinte Ellen, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und musterte die Frau nun etwas genauer. Viel war nicht von ihr zu sehen, da sie die Bettdecke ziemlich weit nach oben gezogen hatte. Sie trug ein rosa Nachthemd und ein wollenes Bettjäckchen darüber. Ob sie es wohl selbst gemacht hatte? Die Wolle, mit der sie strickte, war dunkelbraun und es sah aus, als sollte es ein Pullover werden. „Was soll man denn sonst machen?“, meinte die Frau mit einer Gelassenheit, die Ellen verblüffte. „Es hilft ja nichts, sich verrückt zu machen. Ich habe in den letzten Jahren viel erlebt. Ich habe es satt, ständig in Krankenhäusern zu sein. Aber das sind nun mal meine Aussichten wenn es nach den Ärzten geht. Ich habe keine Kinder, nur eine Nichte, mit der ich mich nicht besonders gut verstehe. Die dürfte so in ihrem Alter sein. Ich lebe alleine in einem riesigen Haus, das mir mein Mann hinterlassen hat. Finanziell könnte ich mir fast alles leisten, was ich will. Aber Gesundheit lässt sich nun mal nicht kaufen. Eigentlich wollten mein Mann und ich gemeinsam noch ein paar schöne Jahre in unserem Haus verbringen. Jetzt ist es mein Mausoleum. Anfangs habe ich sehr damit gehadert und war verbittert, dass das ausgerechnet mir passieren musste, nachdem ich doch gerade meinen Mann verloren hatte. Ich habe ständig gedacht, dass es anderen besser geht als mir und dass mir alles Schlechte passiert und anderen immer alles in den Schoß fällt. Damit habe ich fast zwei Jahre meines Lebens verschwendet, bis mir schließlich klar wurde, dass ich das alles nicht so sehen darf. Immerhin ging es mir viele Jahre lang gut. Dafür darf ich nicht undankbar sein. Heute freue ich mich über jeden Tag meines Lebens, der mir noch ohne Schmerzen bleibt und ich versuche es, trotz der vielen Krankenhausaufenthalte, zu genießen.“ Sie hielt Inne und sah Ellen eindringlich an. „Das sollten Sie auch tun, Kindchen. Egal, was die Prognose ist. Das sollte jeder tun, ob er nun krank ist oder nicht.“ Ellen schwieg eine ganze Weile, während sie die Frau genau beobachtete. Sie spürte, wie die Emotionen sie übermannten und schließlich konnte Ellen die Tränen nicht mehr zurückhalten. Schluchzend brachte sie hervor: „Ich… ich... Mir wurde gerade gesagt, dass ich Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium habe. Metastasen an mehreren Stellen. Sechs Monate ohne, ein Jahr oder so mit Chemo.“ „Ach Kindchen“, sagte die Frau in sanftem Ton, „das mag sich jetzt herzlos anhören, aber es hätte auch noch schlimmer sein können.“ „Schlimmer?“ schluchzte Ellen und suchte verzweifelt nach einem Taschentuch in ihrer Handtasche. „Immerhin haben Sie mit einer Chemo noch Aussichten auf ein Jahr plus. Das hat nicht jeder.“ Ellen hörte für einen Moment auf zu weinen und schaute die Frau fassungslos an. Dann schnäuzte sie sich kopfschüttelnd in ihr Taschentuch. So etwas Plumpes hatte sie noch nie erlebt. Gerade hatte sie sich dieser Wildfremden geöffnet, ihr gesagt, dass auch sie bald sterben würde und die kam ihr so? „Haben Sie eigentlich gerade gehört, was ich gesagt habe? Haben Sie denn gar kein Mitgefühl?“ rief Ellen wütend. „Ach, Mitgefühl. Mitgefühl. Was hilft Ihnen denn Mitgefühl? Davon wird’s auch nicht besser. Was Sie jetzt brauchen, ist jemand, der Ihnen klar sagt, wie die Dinge stehen, ohne diese Mitleidsmasche. Das bringt doch nichts. Ist nur Zeitverschwendung. Sie verkriechen sich im Selbstmitleid, bedauern Tag und Nacht Ihre Lage und bevor Sie sich umschauen, ist ein Jahr vorbei und Sie haben nichts Sinnvolles damit angefangen. Machen Sie doch einfach noch was mit der Zeit, die Ihnen bleibt. Und wenn ich Ihnen einen gutgemeinten Rat mitgeben darf: Nehmen Sie die sechs Monate ohne Chemo und nicht das Jahr mit. Sie fühlen sich während einer Chemo die meiste Zeit so elend, dass Sie eh nichts von dem Jahr haben. Glauben Sie mir, ich weiß wovon ich rede. Bis zum Ruhestand schaffen Sie es vielleicht nicht mehr, aber Sie haben noch ein wenig Zeit geschenkt bekommen. Nutzen Sie diese weise.“ Das war Ellen nun wirklich zu viel. „Sie sind doch total wahnsinnig“, brachte sie fassungslos hervor. Dann sprang sie auf, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte wutentbrannt aus dem Zimmer. Das war ja die Höhe. Wo war sie denn da gelandet?

      Schnurstracks lief sie zum Schwesternzimmer, um sich zu beschweren. Ohne anzuklopfen riss sie die Glastür auf. Die Oberschwester, eine beleibte Frau, die schon einige Dienstjahre hinter sich zu haben schien, fuhr von ihrer Schreibarbeit auf, als Ellen lospolterte: „Das geht so nicht. Wo haben Sie mich denn da reingesteckt? Ich will ein anderes Zimmer.“

      „Na, na, na“, entgegnete Oberschwester Linde kopfschüttelnd. „Nun kommen sie doch erst einmal an. Sie sind ja noch keine zehn Minuten hier. Wir sind nun mal kein Fünf-Sterne-Hotel. Sind Sie Privatpatientin? Nur dann haben Sie Anspruch auf ein Einzelzimmer.“ Mit feldwebelhaftem Ton wies sie ihre völlig aufgebrachte Patientin zurecht. Was sich manche Leute immer erdreisteten. Kaum waren sie hier, schon wurde gemeckert.

      „Es geht mir nicht um Luxus“, erwiderte Ellen schnippisch. „Aber bei dieser Frau bleibe ich keine Sekunde länger“.

      „So? In welchem Zimmer sind wir denn?“, fragte Oberschwester Linde spöttisch.

      „Zimmer 211“, antwortete Ellen knapp. Schlagartig änderte sich der Tonfall der Oberschwester.

      „Ach so, Zimmer 211. Ja, ja. Da haben Sie tatsächlich nicht das einfachste Los gezogen, was? Unsere werte Frau Althoff. Gewöhnungsbedürftig, exzentrisch, da gebe ich Ihnen recht.“

      „Gewöhnungsbedürftig?“ rief Ellen. „Das ist ja wohl etwas milde ausgedrückt. Die Frau ist der Gipfel. Ich bin sehr krank und ich bleibe keine Sekunde länger mit dieser Person im gleichen Zimmer.“ Beruhigend strich die Schwester über Ellens Oberarm.

      „Es tut mir wirklich leid, Frau ehm…“ ein schneller Blick auf ihren Zimmerplan, „…Frau Bleckmann. Aber wir haben momentan kein anderes Bett mehr frei. Naja, eins, aber das… das befindet sich eben auch in Frau Althoffs Zimmer.“ Sie kicherte, hörte damit aber sofort wieder auf, als sie merkte, dass Frau Bleckmann wohl nicht zu Scherzen aufgelegt war. „Sobald eins frei wird, werde ich schauen, was sich machen lässt“, fuhr sie fort. „Ich bitte Sie, solange Geduld zu haben. Morgen könnte sich eventuell etwas ergeben.“ Sie schaute kurz auf ihren Belegungsplan, der vor ihr an der Wand hing. Obwohl sie wusste, dass momentan keine Entlassungen vorgesehen waren, machte sie dieser verzweifelten Patientin falsche Hoffnungen. Aber was sollte sie denn sonst tun? Sie war müde. Es war ein langer Tag gewesen und in einer Stunde hatte sie Dienstschluss. Mit diesem Problem könnten sich ihre Kolleginnen morgen befassen, wenn sie ihren freien Tag hatte.

      „Ich soll also eine ganze Nacht mit dieser Frau verbringen?“ rief Ellen. „Das ist doch hier ein Krankenhaus und meines Wissens sollte ein Krankenhaus eine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Patienten zum Ziel haben. Wie kann es einem aber besser gehen, wenn man mit einer Person in einem Zimmer ist, die einem sagt, dass man doch mit seiner schlimmen Diagnose zufrieden sein soll und es immerhin noch schlimmer sein könne? Und dass ich lieber sechs Monate ohne Chemo als ein Jahr mit nehmen soll, da ich es ohnehin nicht bis zum Ruhestand schaffen werde.“ Sie schnaubte wütend, als sie daran dachte, mit welcher Gleichgültigkeit diese Frau das zu ihr gesagt hatte.

      „Ach deshalb sind Sie wütend. Ich dachte es sei wegen…“, Oberschwester Linde hielt abrupt inne und fuhr dann in bestimmtem Ton fort: „Nun, es tut mir wirklich leid, aber ich kann Ihnen nichts anderes mitteilen, als dass Sie bis morgen warten müssen. Dann kann ich Ihnen sagen, ob irgendwo anders ein Bett freigeworden ist.“ Damit schob sie Ellen aus dem Dienstzimmer und schloss die Tür hinter sich.

      Ratlos stand Ellen im Gang. Was hatte Oberschwester Linde gemeint mit „ich dachte es sei wegen…“? Was sollte sie nun tun? Zurück in ihr Zimmer wollte sie im Moment auf keinem Fall. Sie hatte keine Lust auf ein weiteres Gespräch mit dieser Wahnsinnigen. Ihre Handtasche hatte sie bei sich und so machte sie sich auf den Weg in die Cafeteria.

      2

      Drei Espressi und ein Stück Marmorkuchen später fand sich Ellen wieder in ihrem Zimmer ein. Ihre Mitbewohnerin war gerade nicht da. Eine willkommene Gelegenheit, sich etwas hinzulegen und die Augen zu schließen. Sie faltete ihre dunkelbraune Jeans und hängte ihre farblich abgestimmte Bluse auf einen Kleiderbügel. Ihre braunen Wildlederstiefel stellte sie sorgsam unter das Bett. Dann