»So, waren das alle Gedanken aus deiner fürchterlichen Schulzeit?«
Ich überlege kurz. »Im Moment fallen mir keine dieser kleinen aber stetig nervenden Gedanken mehr ein, die in letzter Zeit unerträglich in meinem Kopf gekreist sind.«
»Jetzt, wo du weißt, wie es sich anfühlt, können wir uns an die tiefer sitzenden traumatischen Gedanken wagen.« Der Neurologe sieht mich besorgt an. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass es jetzt heftig wird. Ich kenne schließlich deine Geschichte, aber danach kannst du schlafen wie ein komatöses Baby.«
Ich weiß, was der Arzt meint, aber eigentlich raubt mir das Attentat nicht mehr den Schlaf. Jedoch gehe ich davon aus, es hat nachhaltig etwas in mir verändert. Auch wenn ich noch oft daran denke, wie man versuchte, mich zu töten, andere unbedeutende Kleinigkeiten wie ein doofer Spruch von einem Lehrer vor langer Zeit oder von irgendeinem Mitschüler, dessen Namen und Gesicht ich längst vergessen habe, fand ich bisher viel schlafraubender. Trotzdem kann es nicht schaden, dieses wahrscheinlich tief sitzende Trauma, was von weit unten immer wieder versucht, nach meiner Seele zu greifen, zu vernichten. Ich konzentriere mich also mit aller Kraft auf den Moment, als ich von der jungen Frau niedergestochen wurde. Mir wird schnell klar, der Arzt hat mich zu Recht gewarnt, es wird geradezu unerträglich intensiv, aber selbst wenn ich wollte, ich bin durch das Konzentrin nicht mehr fähig den Gedanken zu stoppen.
Der Arzt tippt und wischt ein wenig auf seinem Tablet herum, damit der Gedanke und die Emotionen dazu gelöscht werden.
»AAAAHHH! Wieso steckt ein Messer in mir? Dieses Blut! Warum ist überall Blut! Ich will nicht sterben!« Ich spüre wie mich irgendjemand oder irgendetwas festhält, was sich aber in meinem Kopf kurzzeitig so anfühlt, als würde jemand auf mir liegen, um mich endgültig mit einem erneuten Messerstich zu töten.
»Es ist gleich vorbei«, höre ich eine dumpfe Stimme aus der Ferne. Plötzlich ist dieser intensive Gedanke einfach weg. Ich erkenne eine freundliche Krankenschwester über mir, die mich sanft und ein wenig besorgt anlächelt. Doch so richtig weiß ich nicht mehr, was passiert ist. Na ja, ich weiß schon noch von allem, aber es fühlt sich so an, als hätte, das was Schlimmes passiert ist, nichts mit mir zu tun. So als wäre das Passierte eine Erinnerung an einen Film, in dem ich mich selbst als eine Art Schauspieler sehe. Ich empfinde keinerlei Emotionen zu diesem Vorfall oder sonst irgendeine Verbindung zu meinem Sein. Ich kenne nur noch die sachlichen Fakten. Es ist ein angenehmes Gefühl. Wobei mir für diesen Text, den ich euch gerade schreibe, der Arzt einiges über meine eigene Vergangenheit erzählen musste, sonst hätte ich nicht aufschreiben können, wie es sich damals angefühlt hatte.
Auf einmal bekomme ich Angst, weil der Arzt fragt: »Was ist mit Hündchen? Die aufwühlenden Gedanken daran sollen doch bestimmt auch weg?«
Wie so oft, wenn ich Angst habe, scherze ich: »Wer ist Hündchen?«
Der Arzt guckt nur ein wenig genervt und tippt weiter auf seinem Tablet herum.
Dann auf einmal bewegen sich ungewollt meine Lippen: »Die Sozialversicherungsnummer von Hündchen lautet 75949... WAAAH!!!« Ich versuche verzweifelt, den außer Kontrolle geratenen Teil meines Gehirns zu unterdrücken. »Hündchen heißt nicht Hündchen. Der Name lautet.... AAAH! Stopp!«
Der Arzt guckt aufgesetzt grimmig mit einem verspielten Funkeln, das ganz klar zum Ausdruck bringt, dass er sich seiner Allmacht bewusst ist. »Ich mag diese Scherze nicht.«
Erst jetzt verstehe ich, was gerade passiert ist. Ein kleiner Trost ist, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch der Job eines Neurologen von einer künstlichen Intelligenz uneingeschränkt übernommen werden kann.
»Die Technik ist faszinierend oder?«
Spüre ich in der plumpen Frage Reue, die mich wieder beruhigen soll? Es funktioniert.
»Sie ist gruselig. Warum in aller Welt kenne ich Hündchens Sozialversicherungsnummer?«
»Dein Hirn kennt sie oder glaubt sie zu kennen, aber du hast die Nummer nicht im Bewusstsein. Also soll ich Hündchen löschen, nein oder ja?«
»Ja!« Ich schlucke kurz. »Nein, Hündchen nimmt quasi mein gesamtes emotionales Gedächtnis ein. Sein Verschwinden würde mich total verändern. Das geht nicht.«
»Doch es geht, aber was du sagst, stimmt. Seine emotionale Löschung würde dich zu einer völlig anderen Person machen, aber deine Trauer, deine chronische depressive Verstimmung kann entfernt werden, wenn wir Hündchen entfernen.«
Eine Träne kullert über meine Wange.
»Der Gedanke an Hündchen quält dich auch jetzt noch.«
»Nein! Es ist der Gedanke, dass ich Hündchen jemals vergessen könnte. Hündchen darf mir für alle Zeit den Schlaf rauben. Es muss für immer in meinem Kopf bleiben.«
Essen gut, alles gut?
Gerade ist mein geliebtes »Haustier« verstorben. Kann ich ohne Hündchen jemals wieder glücklich werden? Ich starte einen Versuch, Glück zu erhaschen und gehe Lebensmittel shoppen. Das war ich schon lange nicht mehr, denn meistens lasse ich mir Lebensmittel liefern oder Hündchen bringt mir was vorbei, das heißt, brachte mir was vorbei. Bringen lassen, so praktisch es auch ist, bietet nicht das selbe Einkaufserlebnis, wie ein Besuch im Supermarkt. Wenn ich die frischen Produkte mannigfaltig im Supermarkt sehe, rieche, fühle, Obst und Gemüse in prächtigen gesunden Farben und aufregenden Formen bewundere, dann durchflutet mich ein Schwall atemberaubender Ideen für meine abwechslungsreichen Mahlzeiten. Neue Geschmäcker ausprobieren, mit avantgardistischer Leidenschaft neue Gerichte kreieren und mich dann an ihrem Geschmack selbst zu berauschen, scheint mir eine gute Möglichkeit, etwas Glück zu finden.
Unspektakulär bringt mich ein A.S.T. zum Supermarkt. Sanft setzt es mich vor dem Eingang ab. Dann gleitet es zu irgendeinem nächsten Kunden. Ich frage mich, wie die Fahrzeuge immer so sauber und aufgeräumt sein können. Es muss so etwas wie ein automatisches Reinigungssystem geben. Vandalismus habe ich sowieso schon ewig nicht mehr gesehen. »Schöne neue Welt«, denke ich ohne jede Ironie.
Im Supermarkt hat sich eine Menge verändert. Nur noch zwei Personen arbeiten dort gleichzeitig in einer 2-Stunden-Schicht. Die Maschinen und Automaten hingegen sind 24 Stunden, 365 Tage im Jahr im Einsatz. In der 1000 m² Halle begegnet man nur wenigen Menschen. Anscheinend verteilt sich die Kundschaft über den ganzen Tag, weil jeder nur zum Supermarkt geht, wenn er vorher mit der App gecheckt hat, ob der Markt leer genug ist. Es gibt dadurch keine absurden Verhaltensweisen von schrulligen Menschen, über die ich berichten könnte. Alles läuft erfreulich logisch, kühl und gelassen ab. Interessant ist allerdings das Lebensmittelangebot. Natürlich habe ich online schon Veränderungen im Sortiment festgestellt, aber es ist etwas anderes, wenn man den Supermarkt besucht und die Regale plötzlich mit komplett anderen Produkten gefüllt sind.
Ich hätte nicht gedacht, dass sich so schnell neue Gewohnheiten herausbilden. Da Menschen immer weniger von Soziomanie abgelenkt werden, treffen sie auch bei Lebensmitteln kaum noch dumme Entscheidungen. Ich sehe quasi kein Junkfood mehr. Stattdessen sehe ich bestens sortierte, hochwertige, gesunde Lebensmittel in Hülle und Fülle. Ich schaue mich in den Regalen genauer um und entdecke nur noch rohe, vegane Lebensmittel, die gemäß modernster Gesundheitsforschung konzipiert sind. Aber warum? Warum sollten jetzt auf einmal alle rohvegan leben? Ist das nicht total merkwürdig? Für Soziomanen sicherlich, aber für vernünftige Menschen keineswegs. Gewohnheit und schlechte Vorbilder hindern sie ja nicht mehr daran, andere ungewohnte