Schleier des Nichtwissens
Wäre ich statt mit Bildschirmfenstern mit transparentem Glas gefahren, hätte ich ziemlich leere Plätze und Straßen gesehen. Nur wenige Menschen laufen draußen herum und leben muss auf der Straße sowieso niemand mehr. Dort wo früher Obdachlose saßen, stehen heute Informationstafeln, die den Weg zu kostenlosen Wohnungen weisen. Es handelt sich dabei nicht um irgendwelche Sammelschlafstellen, an denen früher schon allein aufgrund der Enge soziale Konflikte vorprogrammiert waren. Die Tafeln weisen den Weg zu komfortablen Wohnungen, die den sozionormalen Ansprüchen auf Privatsphäre und Sicherheit genügen. Finanziell reiche Menschen hatten nach ihrer sozionormalen Behandlung angefangen, ihre Villen und Luxuswohnungen umzubauen. Auf einmal war es für sie selbstverständlich, dass niemand mehr draußen schlafen sollte und dass sie für Notleidende Verantwortung übernehmen. Eigentum verpflichtet schließlich. So steht es im Grundgesetz.
Für alle künftig Lernenden des neu geplanten Bildungssystems mit dem Arbeitstitel »Virtuelles Lernen und Lehren« möchte ich gerne einen wichtigen Leitsatz für das Handeln von uns Sozionormalen und seine Auswirkung auf unser Zusammenleben erläutern. Das Bildungsministerium hatte angefragt, ob ich ab und zu ein paar Gedanken beitragen kann, damit das Verständnis von Sozionormalität weiter vertieft werden kann.
Erst dachte ich, ob die noch alle Latten am Zaun haben, wieso ich einen Vortrag halten könnte und wieso ich überhaupt dazu Lust haben sollte. Dann wurde mir gezeigt, wie Vorträge heutzutage erstellt werden: Es ist dabei egal, wie schlecht ich spreche und wie bescheuert ich wirke. Allein mein Name ist relevant. Ein Programm erledigt die meiste Arbeit. Das Programm übersetzt meinen Vortrag, den ich von zu Hause aus vor einer Notebook-Kamera halte, in ein optimales Bild und Ton, so dass die Präsentation mit mir und meiner Vortragsweise nur am Rande zu tun hat. Bei der automatischen Verbesserung der Vorträge geht es ausschließlich darum, dass sich die Studenten meine präsentierten Inhalte optimal merken. An meiner Stelle spricht vor den Studenten ein unterhaltsamer und niedlicher Avatar (obwohl ich mich selbst eigentlich für niedlich genug halte).
Mag sein, dass diese graue Theorie wenig unterhaltsam sein wird, aber man sollte sich gelegentlich bewusst machen, warum die Welt gerade so ist, wie sie ist, nur so bleibt man mündig, nur so kann man die Welt weiter verbessern.
Wie irre hämmere ich auf die Tastatur des Laptops ein, weil in mir die philosophischen Gedanken gerade wie Blitze in einer Gewitterzelle zucken. Für die Studenten wird aus meinem Text, wie gesagt, später eine multimediale Show kreiert, welche die Aufnahme des Wissens optimiert. Hier im Buch gibt es nur die etwas weniger mitreißende Rohfassung:
Die sozionormalisierende Gehirnbehandlung hat etwas sehr hilfreiches zu Tage gefördert. Weil sich die immer zahlreicher werdenden Sozionormalen ihrer selbst und ihren Bedürfnissen sehr bewusst sind, bekommen sie eine neutrale Sicht auf alle anderen Menschen. Sie handeln immer stärker, als befänden sie sich unter dem Schleier des Nichtwissens. Das bedeutet, sie agieren so, als wüssten sie nicht, welche Position sie selbst in der Gesellschaft haben werden, während sie die Gesellschaftsordnung mit all ihren Regeln und Umverteilungsmechanismen entwerfen. Sie tun vor gesellschaftlichen Entscheidungen so, als könnten sie selbst Habenichtse aus indischen Slums oder superreiche Unternehmererben sein. Wenn man um seinen Status in der Gesellschaft nicht weiß, beziehungsweise ihn einfach außer Acht lässt, stellt man automatisch die für alle gerechtesten Regeln auf (vgl. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2003). Ethisch betrachtet, ist das Vorgehen unter dem Schleier des Nichtwissens das Beste, was ein Mensch, eine Gesellschaft tun kann. Die Idee, die John Rawls entwickelt hat, hatte in der soziomanen Welt ein Problem: Man musste sich selbst dazu zwingen, nach dem Schleier des Nichtwissens zu denken, denn das soziomane Gehirn ist viel stärker egoistisch programmiert. Im soziomanen Gehirn drehen sich die Gedanken meistens darum, wie man seinen eigenen Status in Bezug auf die Gruppe verbessern kann. Das führt zu Gier nach Geld, nach Anerkennung, nach Macht. Durch die sozionormale Behandlung können die Menschen gar nicht mehr so denken. Sozionormale können diese erhabene Position des scheinbaren Nichtwissens um die eigene Position einnehmen.
Der Schleier des Nichtwissens blendet Egoismen völlig aus. Da man nicht wissen kann, als was man geboren wird und welche guten oder schlechten Dinge einem im Leben passieren werden, betrachtet man alle Menschen als gleichberechtigt; kein Naserümpfen über Obdachlose, keine Ressentiments gegenüber Kopftuchträgern oder Glatzköpfen. Jeder einzelne Mensch versetzt sich automatisch in andere Menschen hinein und vergisst für einen Moment, dass das aktuelle Ich eine Konstante ist. Man stellt sich vor, dass ein Ich-Tausch mit anderen Menschen jederzeit möglich wäre. Dadurch ist man bestrebt, Bedingungen zu schaffen, unter denen ein vermeintlich unbegabter, arm geborener Mensch genauso glücklich wird wie ein Mensch, der durch pures Glück bei der Geburt begabter und reicher ausgestattet wurde. Der Schleier des Nichtwissens verschweigt sozusagen das eigene Ich für einen Moment und sagt stattdessen: »Du weißt nicht, wer du bist. Du könntest jeder sein. Was wäre, wenn du vom Schicksal gezwungen derjenige sein müsstest, dem es gerade am schlechtesten geht? Dann wäre es notwendig, dass dir sofort am meisten geholfen wird.« Das hat in der Praxis nicht nur in Bezug auf Obdachlose positive Konsequenzen. Sozionormale Menschen wollen immer, dass es nicht nur ihnen selbst gut geht oder nur ihrer Familie oder ihrem engeren Umfeld, sondern auch alle anderen Menschen sollen so angenehm wie möglich leben. Deswegen setzen sich sozionormale Menschen unbefangen für gleich gute Lebensbedingungen aller ein, und zahlen beispielsweise sehr gerne Steuern. Würden sie Solidarität verweigern, spürten sie das Leid der Leidenden auch bei sich, denn sie wüssten immer, auch sie könnten der andere sein, der gerade Pech hatte. Vielleicht hat diese Art zu denken etwas Quälendes fast schon Masochistische s, aber nur das Mitfühlen hat dieses großartige Potential, eine gerechte Welt zu erschaffen, in der nicht nur kein Mensch leidet, sondern absolut jeder Mensch glücklich ist. Noch ist nicht die ganze Gesellschaft sozionormal, noch empfindet nicht jeder die »Qual« besser gesagt die Segnung des Mitfühlens, doch irgendwann werden alle Menschen so mitfühlen können, dass das Schlechte auf der Welt komplett eliminiert wird.
Ich bin mit mir wieder etwas zufriedener, als ich den Text an das Projektteam »Virtuelles Lernen und Lehren« sende. Genau wie den brennenden Smoothie brauchte ich anscheinend auch das Schreiben des Textes. Alles ist gut, so wie es ist... so wie es wird.
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»Sehr gut. Da haben wir ja den Übeltäter, der dich einfach nicht in Ruhe lassen wollte und dich nicht schlafen ließ«, kommentiert der Neurologe sein Tun in meinem Kopf.
Ein merkwürdiges Gefühl überkommt mich, jetzt wo ich die Prozedur hinter mir habe. Kennt ihr auch das Gefühl, dass ihr gerade einen unglaublich spannenden, erzählenswerten Traum hattet, aber ihr ihn Sekunden nach dem Aufwachen wieder vergessen habt? Genau so fühle ich mich jetzt, als ob ich etwas seltsames geträumt hätte, an das ich mich nun nicht mehr erinnere. Wenn auch ein wenig anders, empfinde ich das Gefühl als vergleichbar. Jedoch geht es bei besagter Prozedur nicht um das Vergessen absurder, witziger oder gar erotischer Träume, sondern um Gedanken, die einen wach gehalten haben, Gedanken, die jede ruhige Minute im Kopf nutzten, um vermeintliche Probleme derartig aufwendig in Szene zu setzen, dass man meinte, man könne nicht weiterleben, wenn man diese vermeintlichen Probleme nicht sofort löst. Das tückische ist nur, dass es sich dabei immer um Probleme handelt, die im Moment des Nachdenkens unlösbar sind, weil das Hirn mit irgendwelchen vergangenen Ereignissen im Kopf herumjongliert und dabei zum Beispiel vermeintliche Missverständnisse oder sogar Peinlichkeiten aufdeckt, die einem bei der Kommunikation mit Menschen passiert sein sollen. Hat man sich vielleicht aus Versehen in der Bäckerschlange vorgedrängelt? Wurde man beim Wechselgeld betrogen? Hatte man sich im Meeting derart unklar ausgedrückt, dass niemand wusste, was man sagen sollte? Ich weiß auch nicht, welcher dumme Umstand in der Evolutionsgeschichte unserem Gehirn diese sinnlose Angewohnheit des unlösbaren Gedankenkreisens verpasst hat.
Allerdings, was mich zuletzt um den Schlaf