Lis Familie lebte von der Landwirtschaft. In guten Jahren wurden für die Ernährung der Familie, die aus Lis Eltern, ihr Vater hieß Yong, ihre Mutter Hu, einem Großvater, einer taubstummen Großtante und drei Kindern bestand, drei Viertel der Ernte benötigt; dann konnten ein Viertel der Ernte auf dem Markt verkauft und für das Geld nach Abzug der Steuern die nötigsten Anschaffungen getätigt werden. In schlechten Jahren blieb für den Verkauf nichts übrig, und Yong wusste nicht, wovon er die Steuern zahlen sollte. Trotzdem war er meistens fröhlich und voller Pläne.
„Wisst ihr“, pflegte er oft zu seinen zwei Söhnen und seiner Tochter Li zu sagen, „unser Urururururgroßvater war ein bedeutender Mann, er war ein Mandarin beim letzten Kaiser von China und trug Seidengewänder mit Goldfäden. Aber dann kam die Revolution und er verlor alles. Aber das hatte auch sein Gutes, denn jetzt konnte er heiraten – als Mandarin war ihm das verboten –, und wenn er nicht geheiratet hätte, gäbe es mich nicht und euch auch nicht, und das wäre doch sehr schade!“
„Hat er als Mandarin in der Verbotenen Stadt gelebt?“ fragte einer der Söhne.
„Nein, in der Provinz, für die er verantwortlich war. Aber später, nach der Revolution hat er in Peking gelebt.“
„Wie lange ist das her?“
„Fast zweihundert Jahre.“
„Und wie ist die Familie hierhergekommen?“
„Unser Urururururgroßvater musste mit seiner Frau und seinen Kindern während des Bürgerkriegs fliehen, er kam mit den Kommunisten nicht zurecht. Wir sind also keine Südchinesen, sondern stammen aus dem Norden. Auf seiner Flucht wäre unser Ahn beinahe erschossen worden, aber er konnte entkommen. Als ich klein war, hat mir mein Großvater die Geschichte noch in Einzelheiten erzählt, aber ich habe sie leider vergessen.“
„Wisst ihr“, sagte Lis Vater auch oft, „wenn ich etwas Geld hätte, würde ich uns ein schönes Haus bauen, das mitten in einem Garten liegt und mit einer großen Steinmauer umgeben ist. Das Tor ist schmiedeeisern, und zwei vergoldete Drachen halten die Torlaterne. Das Haus erhält einen Innenhof und eine Ahnenhalle. Ich habe alles genau geplant …“
Und nach diesen Worten nahm er einen Stock und begann, den Grundriss des Hauses in den Sand zu zeichnen.
„Wisst ihr“, sagte er zu anderen Zeiten, „wenn ich etwas Geld hätte, würde ich eine Seidenraupenzucht beginnen, vom Reisanbau wird man nicht reich…“
„Wisst ihr“, sagte er auch gerne, „wenn ich etwas Geld hätte, würde ich neue große Solaranlage auf das Dach unseres Hauses bauen …“
Aber er konnte keinen seiner Pläne verwirklichen, und die Familie blieb arm. Die Solaranlage fiel oft aus, und tagelang gab es keinen Strom. Wasser mussten die Kinder aus einem Ziehbrunnen auf dem Dorfplatz holen, und aller Unrat wurde in eine Grube gekehrt. Als Li vier Jahre alt war, brachte die Mutter ein weiteres Kind zur Welt, und Li erinnerte sich später an das Wiegenlied, das Hu der kleinen Schwester vorgesungen hatte: „Bitte schlaf schnell ein, dann kann deine Mutter arbeiten, Feuer machen, kochen und die Schweine füttern!“
Die Geschichte mit dem Käfig sprach sich herum, und bald kamen Leute aus der näheren Umgebung ins Dorf, um den Irren zu sehen. Dann brachte jemand das Gerücht auf, Chen Zhisheng sei verrückt geworden, weil er die Zukunft vorhersagen könne. Ein älterer Mann soll den Anfang gemacht haben. Er ging ganz nahe an das Gitter, gab dem Eingesperrten einen Geldschein und redete ihm gut zu. Aber der Mann im Käfig reagierte nicht. Schließlich zerriss er die Banknote in zwei Teile und warf sie durch die Gitterstäbe hinaus. Der Besucher zog den Schluss, die Zahl, die den halben Wert der Banknote darstelle, werde im Lotto gewinnen. Als tatsächlich die Zahl in der Nacht gezogen wurde, verbreitete sich die Nachricht in Windeseile. Immer mehr Leute kamen, um Chen Zhisheng zu befragen, und bald war er, um den sich vorher niemand gekümmert hatte, eine Berühmtheit in der Provinz. Die Leute brachten ihm Obst oder Gemüse und zeigten ihm dann Spielkarten oder reichten ihm Würfel, Mahjongsteine und Schachfiguren durch die Gitterstäbe. Aber da die Auswahl, die er traf, und die Hinweise, die er gab, nicht eindeutig waren, stellten sich die meisten Weissagungen, die die Leute aus seinem Verhalten ableiteten oder zu erkennen glaubten, als falsch heraus. Trotzdem schadeten sie seinem Ansehen nicht. Als immer mehr Ortsfremde kamen, die zu dem Verrückten im Käfig wollten, nahm die Polizei sie fest und wies sie aus dem Ort. Deshalb suchten sich die Fremden Verbündete unter den Dorfbewohnern. Sie gaben ihnen Geld, damit sie ihnen über Telefon oder Mikrokameras die Bewegungen und Verhaltensweisen Chen Zhishengs übermittelten, um daraus ihre Schlüsse über die richtigen Glückszahlen ziehen zu können.
Schließlich kamen sogar Journalisten ins Dorf, um über den Verrückten zu schreiben. Nach der Veröffentlichung eines Artikels im Blatt der Provinzhauptstadt und dem Nachdruck in einer überregionalen Tageszeitung nahmen sich Rechtsexperten und Juristen des Falles an. Einige zeigten Verständnis für die Notlage der Dorfgemeinschaft. Andere erklärten, es sei eine Schande und untragbar, dass der Kranke in einem Käfig wie ein Zootier gehalten werde. Ein Richter im Ruhestand behauptete, die Verwahrung verletze die Persönlichkeitsrechte des Geisteskranken und sei illegal. Ein Rechtsanwalt vertrat die Ansicht, das Dorfkomitee hätte die Verantwortung für den Kranken nicht aus der Hand geben dürfen und müsse für die medizinische Behandlung auch aufkommen. Schließlich berichtete ein unabhängiger Fernsehsender über den Fall, wobei der Kommentator die Aussage wagte, die Gesellschaft als Ganzes trage die Verantwortung. Danach bekam der Sender einen strengen Verweis von der staatlichen Aufsichtsbehörde, aber sonst geschah nichts.
Als Li fünf Jahre alt war, kamen eines Tages Leute von der Bezirksregierung ins Dorf, riefen alle Männer zusammen und verkündeten, sie hätten gute Nachrichten.
„Die Regierung“, sagte der Sprecher, „sorgt sich um euch und denkt an euer Wohlergehen, auch das entlegenste Dorf wird beobachtet, äh, ich meine beachtet und nicht vergessen. Deshalb hat die Regierung in ihrer Weisheit beschlossen, eine neue Straße und eine Eisenbahnlinie durch das Tal zu bauen. Straße und Eisenbahn werden euch eine gute und schnelle Anbindung zur nächsten Großstadt geben. Endlich kommt die moderne Zeit auch zu euch, denn entlang der Eisenbahnlinie werden neue Fabriken gebaut, und Fabriken schaffen für euch Arbeitsplätze. Der Wohlstand wird in euer Dorf einziehen.“
Er machte eine Pause, sah über die Menge hinweg und begann, in die Hände zu klatschen. Sogleich stimmten seine Kollegen ein. Die Dorfbewohner aber blickten stumm und ungläubig auf die Regierungsvertreter. Nur wenige klatschten. Schließlich fasste sich ein Mann des Dorfkomitees ein Herz und fragte: „Welche Gegenleistung erwartet die Regierung?“
„Nicht viel“, versetzte der Sprecher mit freundlichem Gesicht, „nur das Land für die Trasse. Wir könnten euch enteignen. Aber die Regierung ist großzügig, ihr werdet angemessen entschädigt.“
Nachdem die Leute von der Bezirksregierung weggefahren waren, setzte sich das Dorfkomitee zur Beratung zusammen. Als man sich nicht einigen konnte, schlugen einige Männer vor, den Mann im Käfig zu befragen, schließlich sei erwiesen, dass er in die Zukunft sehen könne. Während die Mehrheit diesen Vorschlag als unsinnig abtat, beharrte eine kleine Gruppe lautstark auf diesem Ansinnen.
„Wie wollt ihr ihn befragen?“ lenkte nach langem Streit der stellvertretende Vorsitzende des Komitees, der ein vernünftiger Mann war, ein.
„Wir bereiten Zettel vor“, war die Antwort, „und werden abwarten, welchen er uns zurückgibt.“
„Wenn ihr meint, was soll es schon schaden!“
Vier Zettel wurden beschrieben. Auf dem ersten stand: „Angebot annehmen“, auf dem zweiten: „Angebot ablehnen“, auf dem dritten: „Schöne Zukunft“ und auf dem vierten: „Große Veränderungen“. Als die Männer zum Käfig gingen, war Zhisheng dabei zu masturbieren. Da er dies täglich tat, nahmen die Erwachsenen keinen Anstoß daran und warteten, bis er die Sache erledigt hatte. (Nur die halbwüchsigen Jungen verspotteten den Gefangenen, wenn sie ihn dabei beobachteten, und machten entweder anfeuernde Gesten oder herablassende Bemerkungen, als hätten sie einen Affen im Zoo vor sich.) Dann reichten