Otto Pfändler 1889-1966. Martin Renold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Renold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738099089
Скачать книгу
obwohl keiner der Bauernsöhne je die Chance gehabt hätte, sie zu gewinnen.

      Otto versicherte ihr, er habe keine Pistole.

      „Darum musst du ganz besonders aufpassen, dass sie dir nicht im Wald auflauern“, mahnte Valerie.

      „Meinst du, ich würde sonst auf sie schießen?“, fragte Otto.

      „Nein, das wäre ja noch schlimmer“, sagte sie entsetzt. „Ich möchte dich doch nicht im Gefängnis besuchen müssen.“

      „Ich pass schon auf“, beruhigte er sie, „Berti wartet gerne auf mich. Wenn wir zu zweit gehen, werden sie es nicht wagen. Und Berti würde es schon merken, wenn sie sich aus dem Saal schleichen würden, um uns im Wald aufzulauern.“

      Es erwies sich aber als ein falsches Gerücht. Otto und sein Beschützer blieben unbehelligt. Bald brauchten sich Otto und Valerie auch nicht mehr nur beim Tanzen zu treffen. Valerie hatte Otto zu sich eingeladen, um ihn ihrer Mutter und ihren Geschwistern vorzustellen. Otto freute sich und nahm dies als Zeichen, dass Valerie bereit wäre, seine Frau zu werden. Sie hatte ihm auch bald schon einmal gestanden, dass sie sich vom ersten Augenblick an, in ihn verliebt habe.

      Es war ein Sonntagnachmittag im Herbst, als Otto nicht über den Hof, sondern draußen auf der Straße neben dem eingezäunten Garten der Witwe Renold heraufschritt und hinten um die Ecke bog, wo auf bunt bemalten Blechtafeln Maggi-Bouillonwürfel und Cailler-Schokoladen angepriesen wurden, dann vorbei über die vier Stufen zur Tür stieg und an dem Griff zog, was im Innern eine helle Glocke erklingen ließ. Otto schaute noch einmal an sich herunter, ob die Pochette richtig in der Brusttasche seines Sakkos stecke, und griff rasch noch an die Fliege, ob auch die nicht schief unter seinem hohen, steifen Kragen sitze. Doch schon öffnete sich die Tür. Valerie hatte von ihrer Kammer unter dem Dach aus ihren Liebsten kommen sehen und war heruntergerannt, um ihm rechtzeitig zu öffnen. Sie führte ihn geradeaus durch den düsteren Korridor, wo es angenehm nach Holz roch, in die Stube, wo ihre Mutter, in einen schwarzen Rock gekleidet, am Tisch saß.

      Otto ging auf sie zu.

      „Bleiben sie nur sitzen“, forderte er sie auf, als sie aufstehen wollte. Er sah auch so, dass sie eine kleine, runzlige Frau war. Es war kaum zu glauben, dass sie Kinder auf die Welt hatte bringen können, die einmal so groß werden würden.

      Die Frau sah ihn aus einem Auge an, das andere hielt sie zugekniffen. Erst bei näherem, heimlichem Zusehen sah er, dass das zweite Auge fehlte. Erst viel später erzählte Valerie ihm, dass ihre Mutter als kleines Mädchen mit dem Bruder gestritten hatte, und dieser eine Schere nach ihr geworfen habe, die sie mitten ins Auge traf.

      Die Geschwister waren natürlich neugierig, den Verehrer ihrer Schwester zu sehen. Walti, der im Sommer eine Tochter von den Wirtsleuten des „Bären“ in Birr geheiratet hatte und in das neue, auf der anderen Seite der Schreinerei angebaute Haus gezogen war, brachte auf dem Gang über der Werkstadt seine junge Frau mit, die neben Walti noch viel kleiner schien, als sie war. Sie hatte eine klangvolle, weiche Stimme, die Otto sofort sympathisch war.

      Valerie erklärte Otto leise, aber doch absichtlich so laut, dass das junge Ehepaar es hören musste, sie glaube, Walti habe sie nur so oft auch in den „Bären“ zum Tanz mitgenommen, weil er in die Wirtstochter, die Frieda Frey, verliebt gewesen sei.

      „Was heißt hier gewesen?“, wehrte sich Walti, „ich bin’s immer noch.“

      „Na, hoffentlich“, konterte Valerie.

      Miggi, die eigentlich Marie hieß, war die nächste, die von der zweiten Dachkammer neben jener von Valerie herunterkam. Sie schien es gar nicht erwarten zu können, denn man hatte sie gebeten, sich zurückzuhalten und erst nach einer Weile aufzutauchen. Auch sie hatte Otto schon die Straße heraufkommen sehen, zwar erst im letzten Moment, denn sie hatte erwartet, dass er vom schmalen Weglein herkomme, und hatte in die falsche Richtung geschaut.

      Als nächster kam Otti, der aber auch auf den Namen Otto getauft war. Er war kleiner als Walti, sogar kleiner als Otto. Er war nach Walter und Valerie das vierte Kind der einäugigen Frau. Eigentlich war zwischen Walter und Valerie noch Kari, auch er war nicht auf Kari getauft worden. Es war der Rufname für Karl. Sein Name fiel an diesem Sonntagnachmittag aber nicht. Otto erfuhr erst später, dass während der Rekrutenschule Kari ein Balken auf den Kopf gefallen sei. Genau wisse sie auch nicht, wie es passierte. Aber seither sei Kari nicht mehr bei Verstand, und er lebe jetzt in der Psychiatrischen Anstalt in Königsfelden.

      Auch Anni fehlte, sie war die Mittlere von den drei Töchtern. Sie habe nach den acht Jahren Primarschule, mehr gebe es nicht in Brunegg in dem kleinen Schulhaus, beim Professor Hasler, der Rektor an der Kantonsschule in Aarau sei, den Haushalt gemacht. Seine Frau sei gestorben, und da habe er jemanden gebraucht, der zum Haus und den zwei noch schulpflichtigen Töchtern und einem älteren Sohn aufpasse. Jetzt sei sie aber seit einem halben Jahr als Haushalthilfe und Kindermädchen für zwei kleine Buben bei einer Zahnarztfamilie in Herisau tätig.

      Als letzter war Köbi, der jüngste der Brüder, gekommen, der noch bei einem Schulfreund gewesen war.

      Valerie hatte extra einen Kuchen gebacken. Dazu gab es Tee und Kaffee.

      Zum Nachtessen wollte Otto nicht bleiben. Er wollte nicht unhöflich sein, obwohl ihn auch Valeries Mutter zum Bleiben aufforderte. Schließlich wäre es aber auch unhöflich gewesen, wenn er auf das ehrliche Bitten der alten Frau hin doch gegangen wäre. Also ließ er sich erweichen und blieb.

      Er spürte während des Essens, dass sie alle enttäuscht gewesen wären, wenn er nicht geblieben wäre.

      Als es dann aber doch Zeit wurde und einige der Geschwister, als erste Walti mit seiner Frau und Otti, sich zurückgezogen hatten, verabschiedete sich Otto und dankte noch einmal für den Zvieri und das gute Nachtessen. Valerie begleitete ihn über die steile Treppe hinaus über den Hof und bis zu dem schmalen Weg, wo sie sich nach einem langen Kuss von ihm trennte und ihm noch nachwinkte, bis sich der „Sternen“ zwischen sie und den Davonschreitenden schob.

      Auf dem Heimweg durch den Wald, dachte Otto darüber nach, wie er Valerie fragen könnte, seine Frau zu werden, und ob er nicht vorher, die alte Mutter um die Hand ihrer Tochter bitten müsse. Einen Vater hatte sie ja nicht mehr. Oder müsste er Walti fragen, der das Oberhaupt der Familie zu sein schien. Aber war er das noch, jetzt, nachdem er geheiratet hatte? War das jetzt Otti?

      Otto war sonst nicht so zögerlich. Am besten würde es wohl sein, Valerie zu fragen.

      Als er sie beim nächsten Zusammensein fragte, ob sie seine Frau werden wolle, sagte sie freudig Ja. Otto war überglücklich. Nun wollten sie zusammen zur Mutter gehen und Hand in Hand vor sie treten, und Valerie würde ihr dann sagen, dass sie beschlossen hätten, zu heiraten. Und so geschah es dann auch, und die Mutter gab dazu ihren Segen.

      Am 16. Mai 1913 heirateten Otto und Valerie in der Dorfkirche von Birr. Doch bis es so weit war, mussten die beiden noch ein Hindernis überwinden. Beim Ausgang vom Dorf hatten die Burschen und noch ledigen Männer die Kutsche, in der das Brautpaar zusammen mit Anni als Trauzeugin – Fritz würde als Trauzeuge erst in der Kirche hinzukommen – mit einer langen Stange, die sie über die Straße hielten, aufgehalten. So ohne weiteres wollten sie dann die Braut doch nicht hergeben. Otto musste tief in die Tasche greifen und jedem eine Silbermünze zahlen. Aber auch die Kinder wollten einen Tribut. Sie hatten am Wegrand, wo es auf das Birrfeld hinausging, kleine Nestchen aus Gräsern und Blumen hingelegt, und Anni musste aussteigen und sie mit Bonbons und Schokoriegeln füllen, zu denen sie noch eine kleine Nickelmünze hinzufügte. Auch bei der Einfahrt in Birr war es Aufgabe der Trauzeugin, den wartenden Buben und Mädchen aus der Kutsche heraus Bonbons zuzuwerfen.

      Valerie trug ein langes schwarzes Kleid, wie das üblich war, und einen weißen Schleier. Otto kam sich neben der großgewachsenen Braut klein vor, obwohl er kaum eine Handbreit kleiner war. Doch manche in den Bänken streckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten, als ob nicht jedermann das selbst bemerkt hätte.

      Von St. Gallen waren der ältere Bruder Eduard mit seiner Frau Bertha und der ledige Bruder Fritz mit der Schwester Laura gekommen.

      Auch