Auch die anderen stöhnten darüber, dass die Besprechung durch Tonis Unterbrechung noch mehr in die Länge gezogen wurde. Konnte der Typ nicht einfach die Klappe halten?
„Wenn wir keine ausreichenden Informationen bekommen, sollten wir jemanden Undercover in die Schule einschleusen, der sich dann dort umhören könnte.“ Toni sah in die Runde und war gespannt, wie sein Vorschlag aufgenommen wurde. Er dachte natürlich an sich selbst, denn einen Undercover-Einsatz hatte er noch nie machen dürfen und das reizte ihn. Außerdem wäre er dafür geradezu perfekt, denn immer wieder wurde ihm bestätigt, dass er für seine zweiunddreißig Jahre noch sehr, sehr jung aussah.
Leo und Hans lächelten nur, sie nahmen den Vorschlag nicht ernst. Diana sagte nichts dazu. Sie war von dem Anblick des Opfers immer noch geschockt, denn so etwas hatte die Neunundzwanzigjährige noch niemals vorher gesehen. Das junge Mädchen lag völlig verdreht auf dem Pflaster. Das viele Blut hatte sie erschreckt, aber auch die weit aufgerissenen Augen des Opfers, die sie anzustarren schienen, würden sie noch lange verfolgen.
„Das ist doch Schwachsinn!“, rief der Staatsanwalt, noch bevor Krohmer etwas sagen konnte. „Der Suizid des Mädchens ist tragisch und ich bin trotz anderer Ansicht damit einverstanden, dass wir uns um die Umstände kümmern. Das sind wir nicht nur den Eltern, sondern auch der Bevölkerung schuldig. Allerdings handelt sich immer noch um einen Selbstmord und nicht um Mord, das dürfen wir nicht vergessen! Dazu sind wir alle noch mittendrin in der Corona-Krise, aus der wir auch nicht so schnell herauskommen. Wie sollte Ihr Vorschlag in der Praxis aussehen? Es werden vorerst nur die Schüler unterrichtet, die kurz vor dem Abschluss oder einem Übertritt stehen – wie würde da ein Außenstehender dazu passen? Nein, Kollege Graumaier, es wird hier keinen Undercover-Einsatz geben! Ihr Vorschlag in allen Ehren, aber das ist dann doch zu viel des Guten! Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Sie sehen zu viele Krimis und Actionfilme.“ Eberwein lachte über seinen eigenen Witz, aber außer ihm lachte niemand.
Krohmer dachte ähnlich, war aber auch wütend über die Art und Weise, wie der Staatsanwalt mit dem Vorschlag umging.
„Vielen Dank, Kollege Graumaier. Ich habe mir Notizen gemacht und wir kommen eventuell auf Ihren Vorschlag zurück. Bis dahin bitte ich, dass Sie sich alle im Umfeld des Opfers umhören. Ich muss nicht betonen, dass Sie so behutsam wie möglich vorgehen.“
Alle nickten, denn den Kriminalbeamten war klar, dass man besonders bei einem jungen Opfer sehr umsichtig vorgehen musste.
Krohmer stand auf und gab somit das Zeichen, dass die Besprechung zu Ende war.
Die Kriminalbeamten waren froh darüber und konnten endlich wieder an die Arbeit gehen, auch wenn die sehr unangenehm werden würde.
„Ist es okay für dich, wenn ich mit Leo zur Schule des Opfers fahre? Toni und du könntet nochmals die Eltern und den Bruder befragen“, sagte Hans zu Diana und zeigte dabei auf Graumaier.
„Das geht für mich in Ordnung. Und Toni ist für mich kein Problem, mit dem werde ich fertig.“
„Wenn er frech wird, sagst du es mir, einverstanden?“
„Wenn er frech wird, wird er es sehr bereuen, das kannst du mir glauben.“
„Es wird Zeit, dass der Kollege Graumaier wieder geht“, sagte Eberwein zu Krohmer, als sie allein waren. „Er passt einfach nicht nach Mühldorf.“
„Ich möchte nicht, dass Sie sich nochmals in die interne Arbeit der Polizei einmischen“, sagte Krohmer, ohne auf das Gesagte des Staatsanwaltes einzugehen.
„Ich habe mich eingemischt? Was habe ich denn gesagt?“
„Bei mir dürfen alle Kollegen vorbehaltlos alles sagen und brauchen sich nicht dumm anreden zu lassen. Ich schätze einen offenen Umgang untereinander, den ich mir von niemandem kaputtmachen lasse, auch nicht von Ihnen!“
„Sie meinen diesen Undercover-Einsatz? Das war äußerst dämlich, das müssen Sie zugeben!“
„Das zu bewerten gehört nicht zu Ihren Aufgaben und das steht Ihnen auch nicht zu. Sie dürfen gerne Anregungen geben und wir werden Sie umfassend informieren, aber in unsere Arbeit werden Sie sich nicht mehr einmischen. Haben wir uns verstanden?“
„Was sind Sie denn heute so gereizt?“
„Ich bin gereizt? Sie haben hier während der von Ihnen einberufenen Besprechung zum Tod eines jungen Mädchens mit dem Kollegen Schwartz einen Streit angezettelt und massiv auf ihn eingewirkt – und das zu einem Thema, das nicht hierhergehört. Das war sehr unprofessionell, Herr Doktor Eberwein!“
„Ich fühle mich von den Journalisten in die Ecke gedrängt, vor allem von Frau Kofler. Diese Frau ist echt die Pest! Hatten Sie schon einmal mit ihr zu tun? Ich denke nicht, sonst würden Sie mich verstehen. Sie taucht überall auf und stellt mir die unverschämtesten Fragen. Denken Sie, dass sie mir auch nur einen Schritt entgegenkommt? Nein! Sie belästigt nicht nur mich, sondern auch meine Mitarbeiter. Sie hat es gestern sogar gewagt, bei mir zuhause aufzutauchen und mit meiner Frau zu sprechen. Es besteht immer noch eine Kontaktbeschränkung aufgrund des Corona-Virus. Meine Frau und ich gehören zur Risikogruppe und diese unangenehme Person taucht einfach bei mir zuhause auf! Ich finde es geradezu unverschämt, was sich Frau Kofler erlaubt! Zum Glück kam ich rechtzeitig nach Hause und konnte Schlimmeres verhindern. Frau Kofler muss gebremst werden!“
„Dann sagen Sie das ihr und nicht dem Kollegen Schwartz!“
„Sie haben gut Reden...“
„Gut, dann werde ich jetzt zu Ihrer Frau gehen und auf sie einwirken, dass sie Sie zur Vernunft bringt!“
„Was hat denn meine Frau…“
„Wenn Sie sich das ganz in Ruhe durch den Kopf gehen lassen, werden Sie verstehen, was ich damit sagen möchte. Sie haben eben betont, dass Sie zur Risikogruppe gehören. Sehen Sie zu, dass Sie sich in Sicherheit bringen. Guten Tag, Doktor Eberwein!“
4.
Leo und Hans standen im Klassenraum der 12. Jahrgangsstufe und alle Schüler sahen sie an. Die Gesichtsmasken, die an dieser Schule Pflicht waren, gaben für Leo und Hans ein erschreckendes Bild ab. Die Kriminalbeamten hatten ihre Masken dabei, trugen sie aber nicht, da sie genug Abstand zu den Schülern und der Lehrerin hielten. Außerdem mussten sie eine Ansprache halten und gewährleisten, dass jedes Wort verstanden wurde, was ohne Maske einfacher war.
Viele Schüler hatten geweint, einige wollten Fragen stellen und reckten die Arme, andere grinsten dämlich und wollten damit ihre Unsicherheit überspielen – oder der Tod der Mitschülerin war ihnen schlichtweg egal. Da Leo im Umgang mit Jugendlichen nicht wirklich geschickt war, überließ er die Befragung vorerst Hans.
„Mein Name ist Hans Hiebler und das ist mein Kollege Leo Schwartz. Wir sind beide von der Kriminalpolizei. Wenn ihr erlaubt, würde ich vorerst noch keine Fragen beantworten, die könnt ihr uns gerne später stellen.“ Die Hände gingen wieder nach unten und ein Murmeln ging durch die Reihen.
„Welche Abteilung bei der Kripo?“, rief einer aus der hintersten Reihe.
„Mordkommission“, antwortete Hans wahrheitsgemäß.
„Die Kathi wurde ermordet?“ Die Lehrerin Brigitte Seizinger war erschrocken. Als sie ihre Frage gestellt hatte, bereute sie sie sofort, denn ihre Schüler reagierten darauf und alle sprachen durcheinander.
„Ich bitte um Ruhe!“, rief Leo, der wieder Ordnung in die Klasse bringen musste. Er hatte die lautere Stimme und die zeigte Wirkung. „Ja, wir sind von der Mordkommission, was aber nicht automatisch bedeutet, dass wir es mit Mord zu tun haben. Es ist völlig normal, dass wir bei einem vermeintlichen Suizid ermitteln. Wir wollen die Gründe für die Tat herausfinden,