«Ich verstehe Ihre Sorge. Dann müssten Sie sich selbst umgebracht haben, nicht wahr?»
Die Frau bricht in hässliches Gelächter aus.
«Ehrlich gesagt, habe ich schon daran gedacht, der Qual meines Lebens ein Ende zu setzen, mich zu töten. Aber bis jetzt hat es nur die Anderen getroffen. Sie zum Beispiel.»
«Lieber die Anderen umbringen. Ja, das ist einfacher. Sie sind ein Feigling, Alex. Ich weiß nicht, wie es in Ihrem Inneren aussieht. Aber ich vermute, ziemlich armselig. Vielleicht verschlagen. Sie könnten tatsächlich ein Mörder sein! Ich werde mir nie verzeihen, Ihnen die Ikone anvertraut zu haben.»
Alex beginnt zu schwitzen. Seine Augäpfel tanzen Samba. Sie pendeln hin und her. Plötzlich krallen sie sich an der Frau fest und blicken ihr direkt ins Gesicht: Ja, es ist Tanja. Er erkennt sie. Wehrlen hat ihm das Bild der Leiche gezeigt.
Warum nistet sich eine Tote in meinem Leben ein? Woher kennt mich die Frau? Wie kann sie mich, ihren Mörder, kennen? Weil sie ein Teil von mir ist, wie sie sagt?
In diesem Moment bläst der Wind eine Sandwolke vom nahen Flussufer herbei. Alex reibt sich die Augen. Als er aufblickt, ist die Frau weg. Er sucht die Umgebung ab. Nichts.
Eines wird ihm klar: Sein Psychiater hat Recht. Die Frau ist eine Halluzination.
Sie ist tot, mausetot. Basta. Ein Teil von mir? So ein Unsinn! Ich müsste ja zur Hälfte gestorben sein. Bin ich das?
Nur ..., etwas ist seltsam: Wie soll die halluzinierte Tanja mir Dinge mitteilen, an die ich mich nicht erinnern kann? Am Tatort war keine Ikone. Entweder lügt die Halluzination, oder der Schläger hat die Tasche an sich genommen. Oder ... ich habe die Tüte mit der Ikone vor dem Mord in Sicherheit gebracht. In meinem Atelier?
Alex fragt sich, ob es Tanja war, die ihn kürzlich angerufen hat. Die Erinnerung an das Telefonat treibt ihm noch jetzt den Schweiß aus den Poren. Der Schlag auf den Kopf hat zwar den Inhalt des Gesprächs in seinem Gehirn ausgelöscht. Trotzdem ist Alex überzeugt, dass es Tanjas Ikone ist, die auf der Staffelei steht. Er MUSS an ihr weiterarbeiten. Ganz gegen den Rat seines Psychotherapeuten. Das Restaurieren von Ikonen ist für ihn Medizin. Vielleicht die wirksamere als Eugens Geplänkel. Zudem ist er überzeugt, dass die Ikone übermalt ist.
Er hat ein Lösemittel entwickelt, das es erlaubt, die oberflächliche Farbe zu lösen, ohne die unteren Schichten zu beschädigen. Die Freilegung des Originals könnte die Sachlage klären und ihn aus der Zwickmühle befreien.
Ein Vogel pfeift. Er sitzt hoch oben auf dem Wipfel einer riesigen Fichte und scheint den Ausblick über den Flusslauf, den Wald und die Uferwege zu geniessen. Er wäre ein idealer Zeuge des Mordes gewesen. Von seiner Perspektive aus hätte er den Tatort gesehen. Er hätte gesehen, wer Tanja erstochen und wer den Schädel des Ikonenmalers mit einem Knüppel bearbeitet hat.
«Guten Tag. Ich bin Igor.»
Keine drei Schritte hat sich Alex von der Bank entfernt, als ihn ein älterer Herr anspricht. Er hat graumelierte Haare und trägt einen schwarzen Anzug. Eine Fliege schmückt den weißen Kragen. Seine Schuhe sind auf Hochglanz poliert. An den Seiten der Sohle klebt Dreck und Staub. Keine ideale Ausstattung für einen Spaziergang am Flussufer, denkt Alex.
«Ich weiß, Sie kennen mich nicht. Wie so oft führt der Zufall zu einer unerwarteten Bekanntschaft. Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber sind Sie nicht der stadtbekannte Ikonenmaler? Ich habe kürzlich eine Reportage über Ihr Atelier gelesen. Sie restaurieren Heiligenbilder. Beeindruckend. Ich bin ein begeisterter Ikonensammler. Manchmal handle ich, kaufe mal hier, mal dort ein besonders schönes Werk. Nicht gewerbsmässig. Es ist ein Hobby. Ab und zu verdiene ich etwas damit.»
Derselbe Akzent. Ein Russe. Haben wir eine Invasion?
«Freut mich. Leider bin ich in Eile. Bitte entschuldigen Sie mich.»
Alex versucht, auf dem schmalen Uferweg an Igor vorbeizukommen. Dieser hält ihn aber am Arm zurück.
«Wie gesagt, ich möchte mich nicht aufdrängen, aber erlauben Sie mir eine Frage: Geht es Ihnen gut? Ich habe Sie auf der Bank sitzen gesehen. Dabei ist mir aufgefallen, dass Sie mit jemandem gesprochen haben. Aber da war niemand. Haben Sie Sorgen, Probleme? Brauchen Sie Hilfe?»
«Ich glaube, das geht Sie nichts an. Wenn es Sie beruhigt, ja, ich führe manchmal Selbstgespräche.»
«Ich hätte Sie nicht angesprochen, wenn ich Sie nicht erkannt hätte. Glauben Sie mir. Natürlich ergreife ich gerne die Gelegenheit, Sie zu fragen, welche Art von Ikonen Sie restaurieren. Darstellungen der Gottesmutter? Christusbilder? Den Heiligen Sankt Nikolaus?
Ich könnte Ihr zukünftiger Kunde sein. Sie wissen ja, die alten Sakralwerke sind wieder hoch im Kurs. Viele sind über die ganze Welt zerstreut, seit sie während der Sowjetzeit außer Landes geschafft wurden. Die Bolschewiki gingen nicht gerade zimperlich mit ihnen um. Zum Glück gab es viele Gläubige, die sie aus den Kirchen gerettet haben, bevor diese in Trümmer geschlagen wurden.
Stellen Sie sich vor, sogar der Präsident Russlands, Herr Putin, bemüht sich um die Kunstwerke. Er hat mit dem Patriarchen der orthodoxen Kirche Frieden geschlossen. Die beiden Männer haben gemeinsame Interessen: Macht und Geld. Putin sagt zwar, er wolle die wertvollsten Ikonen dem russischen Volk zurückgeben. In Tat und Wahrheit geht es ihm und dem Patriarchen Kyrill aber um den Wert der Heiligenbilder. Erst kürzlich hat der Vatikan die wohl berühmteste Ikone der Orthodoxie an Russland zurückgegeben. Sie wissen ...»
Alex verdreht die Augen.
«Entschuldigen Sie, ich langweile Sie. Als Fachmann ist Ihnen natürlich bekannt, was ich Ihnen erzähle.»
Richtig geraten. Warum hörst du nicht auf zu plappern? Das ganze Geschwafel dient doch nur dazu, mich aufzuhalten. Was willst du von mir? Weshalb interessierst du dich für meine Arbeit?
«Wirklich interessant, Ihre Ausführungen. Jetzt wollen Sie mich bitte durchlassen. Ich habe noch zu tun.»
«Gewiss, gewiss. Kostbare Werke brauchen Zeit. Kostbare Zeit. Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Vielleicht treffen wir uns mal wieder. Wirklich eine schöne Gegend hier. Deswidanje.»
Eiligen Schrittes entfernt sich Alex von dem eigenartigen Herrn. Vielleicht ist es doch keine gute Idee gewesen, an den Fluss zurückzukehren. Irgendwie entwickelt sich seine Bank zur Drehscheibe eines Dramas, das der Ikonenmaler noch nicht einordnen kann. Aber die Scheibe dreht in die falsche Richtung. Sein Erkenntnisstand hat sich nicht gebessert. Im Gegenteil, die Sache wird immer komplizierter.
Da ist zum einen Tanja, die er womöglich ermordet hat, die er lebend antrifft und die behauptet, ihm eine Ikone übergeben zu haben. Da ist zum anderen der Angriff auf seinen Schädel, der wohl zum Zweck hatte, seinen Körper mit dem Tatort in Verbindung zu bringen. Und da ist schließlich die Tatsache, dass er zufolge der Verletzung unter Amnesie leidet und seine Wahrnehmung auf Schleuderkurs ist. Und jetzt Igor, der in unpassendem Schuhwerk und Outfit aufkreuzt, ihn mit Allgemeinplätzen bedient und sich für seine Ikonen interessiert.
Alex nimmt den Waldweg, der ihn auf die Anhöhe der Stadt führt. Oben angekommen, blickt er zurück. Die Aussicht ist betörend. In der Ferne säumen schneebedeckte Berge den Horizont. Vor ihm liegt der Flusslauf, der sich durch die hügelige Landschaft schlängelt. Die Sonne hat den Zenit überschritten und bringt die Wellen des Wassers zum Spiegeln.
Zwischen den Bäumen sieht Alex die Bank. Jetzt sitzt Igor auf ihr. Er hat ein Taschentuch aus dem Hosensack geholt und putzt damit die Schuhe. Dann nimmt er sein Handy aus der Innentasche des Anzugs und telefoniert.
Ich würde zu gerne erfahren, mit wem er redet. Etwas stimmt nicht mit ihm. Sein Outfit passt weder zu seiner klebrigen Art noch zum schlammigen Flussufer. Zudem lügt er. Ich kaufe ihm nicht ab, dass er ein hobbymässiger Ikonensammler ist. Auch dass unsere Begegnung zufällig war, ist Blödsinn. Er