Alex hat beschlossen, vorläufig zu Hause zu bleiben. Claudia besorgt ihm das Nötigste. Er ist dankbar für die Hilfe. Dass er nicht mehr nach draußen will, ist wegen Igor, der ihn irritiert und dem er am liebsten nicht mehr begegnen möchte. Sicher würde er ihm irgendwo auflauern und ihn mit seinem Geschwätz durcheinanderbringen.
Der Ikonenmaler kann sich in seinem gegenwärtigen Geisteszustand nicht zurechtfinden. Seit einigen Tagen wackelt das Fundament seines Lebens, als würde ein Hurrikan über ihn hereinbrechen. Der Sturm wütet vor allem in seinem Kopf.
Seit dem Gespräch mit seiner neuen Nachbarin muss er immer wieder an seine Begegnung mit der auferstandenen Tanja denken. Er vermutet einen Zusammenhang zwischen Claudias Halluzination des Geistlichen Barty, der sie aufforderte, ein Bild zu übergeben, das möglicherweise eine Ikone war, und der lebendigen Toten, die von einer Ikone sprach, die sie ihm übergeben hatte. Können Halluzinationen miteinander kommunizieren, sich finden, irgendwo im Äther? Und kann durch dieses Zusammentreffen ...? Nein, die Vorstellung ist absurd.
Es gab eine Frau auf der Bank vor dem Mord und eine halluzinierte nach dem Mord. Soweit gut. Fertig. Claudia hatte eine Halluzination. Es war Barty. Fertig. Irgendwo dazwischen war eine Ikone. Gut. Fertig.
Alex grübelt weiter. Es muss auch eine Verbindung geben zwischen der Ermordung Tanjas und der Tragödie Natalies. Beide Ereignisse tragen seine Handschrift.
Das Messer ist des Mörders Zeuge! Ich bin ein Mörder. Claudia hat recht. Ich morde, weil ich mir gegenüber Natalie Schuld aufgeladen habe. Und was hat mir die halluzinierte Tanja gesagt? Es sei einfacher, andere zu töten, als sich selbst? Auch sie hatte recht.
Alex fühlt ein Frösteln.
Unten im Atelier wartet die Ikone auf ihn. Aber er findet nicht die Kraft, um sich an die Arbeit zu machen. Er kann sich nicht einmal vorstellen, die Treppen hinunterzusteigen.
Aber was, wenn die Antwort auf all die Fragen, die in meinem Kopf kreisen, unter der Übermalung liegt?
Alex denkt an die Wundertätigkeit zahlreicher Ikonen, vor allem der alten. Sie ist tausendfach beschrieben. Die Russen haben Schlachten mit Ikonen gewonnen, wenn sie die Bilder an der Spitze ihrer Heere mitführten. Warum sollte seine Ikone ihm nicht helfen, die Schlacht auf dem Trümmerfeld seiner Seele zu gewinnen?
Heute hat ihm Claudia einen Goldbarsch vom Markt gebracht. Fisch sei gesund und würde sein Gehirn mit den nötigen Stoffen versorgen, meinte sie. So könne er die Probleme in den Griff bekommen. Das hat sie gesagt.
Sie kümmert sich rührend um ihn, wenn man bedenkt, wie viel sie selbst zu tun hat. Sie muss ihren Hausrat einräumen. Und sie will sich eine neue Anstellung suchen. Arbeit zu finden ist für sie schwierig, weil sie Schizophrenie hat und es nicht verschweigen will.
Alex findet Claudia trotz ihrer Krankheit ziemlich normal. Wenn er sich mit ihr vergleicht, kommt er zum Schluss, dass seine Befindlichkeit deutlich angeschlagener ist. Nicht nur, weil er ein Mörder ist, sondern weil der Ursprung seiner Geistesstörung in Schuldgefühlen liegt. Er hat Natalie in den Suizid getrieben oder ...
Erst jetzt fällt Alex auf, dass auch die Tragödie Natalies von der Amnesie betroffen ist. Aber was vorher zwischen ihnen geschehen ist, daran kann er sich erinnern. An das Leid, das er seiner Frau zugefügt hat. An die unausgesprochenen Vorwürfe. An die Resignation, in die er geflüchtet ist.
Ein Tagebuch des Versagens. Zentnerschwer lastet es auf ihm. Hätte Natalie aufbegehrt, wäre er vielleicht zur Besinnung gekommen. Aber sie war nachsichtig, wollte ihn nicht verlieren. Sie liebte ihn. Und dann ..., dann war es zu spät.
Es war ein Aufeinanderprallen gegensätzlicher Seelen. Die Katastrophe näherte sich beinahe mit Lichtgeschwindigkeit. Wie aus einem Vulkan wurde die zerstörerische Kraft an die Oberfläche geschleudert. Sein Gehirn war besessen von der Vorstellung, die unerträgliche Situation zu beenden.
Das Unheil ist aber bei Weitem nicht ausgestanden. Seit dem Flussmord sieht sich Alex mit einem weiteren Messer konfrontiert. Er ist zum Wiederholungstäter geworden. Seine Wut ist nicht genügend abgeklungen. Er muss weitermorden. Nur das Motiv hat sich geändert. Jetzt geht es nicht mehr um Natalie, sondern um Schuldbewältigung. Es ist ein Fluch. Eine Sucht. Mordsucht.
Alex fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Dann steigt er die Treppe hinunter. Endlich. Im Atelier entfernt er das Tuch, das die Ikone bedeckt, nimmt den Pinsel in die Hand und taucht ihn in das Lösemittelgemisch. Er hält kurz inne, richtet seinen Blick nach oben, zum Herrn. Dann beginnt er vorsichtig, die Übermalung am unteren Rand der Fürsorgenden Mutter zu lösen. Hinter den Falten des Kleides, das vom Christuskind über den Schoss der Gottesmutter fällt, kommen erste Zeilen einer Schriftrolle zum Vorschein.
Schweißperlen tropfen von der Stirn des Ikonenmalers. Sein Körper zittert. Alex legt den Pinsel beiseite und bedeckt die Ikone wieder mit dem Tuch. Er ist zu aufgeregt, um fortzufahren.
«Ein Schub. Ich spüre es. Er kommt. Ich höre Geräusche, Stimmen.»
Claudia steht im Ikonenatelier. Der Künstler hat vergessen, die Türe abzuschliessen.
«Es tut mir leid, Alex. Ich kann nichts mehr für Sie tun. Bald werde ich zur Gefahr. Ich werde mich für ein paar Tage zurückziehen und meine Tabletten wieder nehmen.»
«Und den Professor besuchen, Claudia. Er kann Ihnen helfen. Warten Sie ...»
Alex blickt zur Staffelei.
Ich muss es versuchen .
«Stellen Sie sich vor die Ikone, Claudia. Berühren Sie sanft den Rand.»
«Was soll das?»
«Es ist ein Experiment. Lassen Sie die Ikone auf sich einwirken. Erspüren Sie die Gottesmutter. Hoffen Sie auf ein Wunder.»
«Jetzt sind Sie wirklich durchgeknallt, Alex. Ich kann sie ja nicht sehen. Das Tuch ...»
Claudia nähert sich der Staffelei. Plötzlich bleibt sie abrupt stehen und stößt einen Schrei aus.
«Sie hat Zähne! Ich sehe sie durch das Tuch hindurch.»
Die Frau beginnt zu schluchzen und stürzt zur Türe. Sie eilt ins Treppenhaus, hinauf in den vierten Stock, und verschwindet hinter der Wohnungstüre, die sie mit dem Schlüssel schliesst.
Alex bleibt wie angewurzelt stehen.
Er versucht, sich zu beruhigen, legt seine schweisskalte Hand auf die Stirne und setzt sich auf den Schemel.
Zuerst die Ikone, um Claudia kann ich mich nachher kümmern.
Nach einem Augenblick der Besinnung ordnet er seine Gedanken: Es gibt zwei Bilder. Ein oberflächliches und ein tiefer liegendes. Noch weiß er nicht, ob die beiden Kunstwerke zu einander in Beziehung stehen. Nur Eines weiß er: Das untere ist das Original.
Kaum hat sein Puls die normale Frequenz wieder erreicht, taucht ein neues Problem auf: Wenn Claudia ihm keine Lebensmittel mehr bringt, muss er das Haus verlassen, um das Nötigste einzukaufen. Nach anfänglichen Bedenken reift in ihm aber die Einsicht heran, dass es so oder so eine irrwitzige Idee war, sich einzuschliessen. Niemand kann sich vor dem Leben verstecken.
Am nächsten Tag verlässt Alex die Wohnung. Im Hausgang horcht er kurz an Claudias Türe. Er hört eine Stimme. Es ist die Stimme seiner Nachbarin, kein Zweifel, aber sie ist rauer, tiefer. Sie scheint mit jemandem zu sprechen. Aufgeregt, zornig. Möbel werden verschoben, Gläser zerbrochen, Drohungen ausgestossen. Es steht fest: Die Paranoia hat Claudia fest im Griff. Der Ikonenmaler ist versucht zu klopfen. Schließlich beschliesst er, nach draußen zu gehen und sich seinen eigenen Problemen zuzuwenden. Das heißt, an den Fluss zu gehen und sich, komme was wolle, allem zu stellen.
Es erscheint ihm fast selbstverständlich, dass Igor auf der Bank sitzt.
«Ich habe auf Sie gewartet.»
«Das