Lügnerin, du vergisst Frau Dr. Hallström und deine weichen Knie in ihren Vorlesungen, hallte ihre innere Stimme fast schmerzhaft in ihrem Kopf und bereitete ihr Unbehagen.
Großes Unbehagen.
„Was beneide ich dich, tolles Wetter, super Essen, schöne Tempel, der Strand in Sihanoukville soll auch zauberhaft sein laut den Fotos aus dem Netz, da waren wir ja leider noch nie und endlich siehst du Dad wieder“, riss sie die Stimme ihrer Schwester aus den Gedanken, die sie so verwirrten und sie war dankbar.
Caroline lächelte leicht. Ihr Vater war nach dem Tod ihrer Mutter vor fünf Jahren nach Kambodscha ausgewandert und arbeitete dort als Lehrer für Deutsch und Englisch an einer privaten Schule.
„Darauf freue ich mich auch schon tierisch, er meint, dass die Kids in Kambodscha viel besser zu handhaben sind als die pubertären Rotzlöffel in Augsburg. Er vertraut mir, ich hoffe…“
Caroline brach mitten im Satz ab und sah ihre Schwester Nadja, die sie zum Flughafen gebracht und ihr beim Einchecken geholfen hatte, zweifelnd an. „Du musst mitkommen, Sis, ohne dich pack ich das nicht. So weit weg. Ich pack das nicht, echt jetzt.“
„Doch, du schaffst das, Ticket, Handy und Pass hast du schon tausendmal kontrolliert, jetzt chill mal. Ich muss jetzt leider auch los, das Büro ruft, die bekommen ohne mich leider nichts gebacken. Echt jetzt, und grüß Dad von mir, ich besuch euch, dann sehe ich ihn nämlich mal nicht nur zu Weihnachten, da kannst du Gift drauf nehmen. Lass dich drücken!“
Caroline atmete tief durch, dem Gong lauschend, der gerade nicht nur ihre Unterrichtsstunde, sondern auch den Schulunterricht des Tages beendete. Damals in Augsburg hatte sie den Gong kaum abwarten können, endlich die Stunde rum, die Quälerei, die Argusaugen von Frau Michel, die jeden ihrer Fehler haarklein in Steno mitschrieb und ihr brühwarm unter die Nase rieb mit der Message, dass sie nichts konnte und besser nicht Lehrerin werden sollte.
Ihre schweißigen Hände.
Hier jedoch lief es, wie Nadja es ihr am Flughafen prophezeit hatte, total entspannt. Die Kinder, ruhig und brav, an ihren Lippen hängend, eifrig Vokabeln aufsagend. Jetzt gingen sie mit einem teils noch schüchternen Lächeln an ihr vorbei und Caroline lächelte ihren Vater an, der ihre Stunde von der letzten Bankreihe mit verfolgt hatte, leicht an.
Ihre Hände waren trotz der schwülen Temperatur, die dieses Klassenzimmer von dem in Augsburg unterschied und das ihre braunen Locken wirr in der Stirn kleben ließen, trocken.
Merkwürdig trocken.
Ihr Vater lächelte breit.
„Du warst wirklich gut, Caro, Respekt. Diese Frau Michel muss eine echte Knallcharge gewesen sein.“
Er schloss sie in die Arme. Seit dem Tod von Mama vor fünf Jahren hatte sie ihn nicht mehr so glücklich gesehen.
Sie lächelte ebenso breit zurück.
„Führst du mich wieder aus, heute Abend, das Essen gestern in der Khmer Kitchen war wirklich köstlich“, fragte sie.
Ihr Vater schüttelte bedauernd den Kopf.
„Heute Abend nicht, Liebes“, er weidete sich an ihrem enttäuschten Gesichtsausdruck, ließ sie los und fügte verschmitzt hinzu. „Ich habe etwas viel Besseres vor, du lernst heute Freunde von mir kennen, Schüler, gute Schüler. Die Mädchen sind zum Teil etwa in deinem Alter, du wirst sie mögen. Eine der angesehensten Familien Kambodschas abgesehen von der Königsfamilie. Speziell Sari wirst du mögen. Sie ist meine beste Schülerin. Sie spricht nahezu perfekt Deutsch und Englisch. Eine wunderbare junge Frau.“
Caroline hatte sich schnell noch in dem Apartment, das ihr Vater angemietet hatte, ein hübsches Kleid angezogen, worüber sie nun froh war, denn das Privathaus, in das sie ihr Vater geführt hatte, war geschmackvoll im typischen Kolonialstil einer Villa gleich eingerichtet und seine Bewohner außerordentlich gut angezogen. Die Dame des Hauses, die ihr ihr Vater als Rani vorgestellt hatte, eine etwas füllige, aber immer noch schöne Frau mittleren Alters in einem edlen Kostüm und teuren Heels, hatte sogar eine Hausangestellte. Diese servierte ihnen sogleich Kaffee mit süßer, sehr dicker Kondensmilch, den Caroline viel zu süß fand und in kleinen Schlucken trank. Eine typisch kambodschanische Kaffeespezialität.
Rani musterte sie über den Tisch hinweg und Caroline errötete leicht. Diese Frau schüchterte sie auf eine merkwürdige Art fast genauso ein wie damals Frau Michel in Augsburg.
„So, Dieters Tochter. Sie unterrichten auch?“ Ihre Stimme klang merkwürdig blechern, fast schneidend.
„Ja, in Dads Schule. Deutsch und Englisch“, sagte Caroline schüchtern mit leiser Stimme.
„Das ist schön, dann können Sie mit meinen Töchtern üben, wo bleibt Sari eigentlich. Gestern war ihre Verlobungsfeier und heute glaubt sie, dass ich ihr alles durchgehen lasse, ihren Verlobten Jay muss ich allerdings entschuldigen. Er musste heute früh mit seinem Cousin Vichay und meiner Tochter Sreykouch, Vichays Frau, geschäftlich nach Phnom Penh. Nach 5 Tagen Verlobungsfeier. Auf der Hochzeit seid ihr natürlich herzlich eingeladen. Sie wird in Battambang stattfinden, aber das weißt du ohnehin, Dieter“, antwortete Rani und blickte etwas ärgerlich auf ihre Uhr. „Simay, meine jüngste muss ich auch entschuldigen. Sies spielt heute Fußball, dieses furchtbare Mädchen. Allerdings ist sie recht talentiert. Sind sie eigentlich verlobt, Caroline?“
Caroline schüttelte den Kopf und lächelte unbeholfen. Diese Frau machte ihr Angst.
Ihre Hände waren ebenso schwitzig wie damals bei Frau Michel in Augsburg. Sie klebten förmlich in ihrem Schoß.
„Jetzt hör aber auf, das arme Mädchen auszuquetschen! Das ist peinlich!“
Caroline fuhr herum.
Ihr war, als würde die Welt für einen Moment stillstehen und ihr Magen verkrampfte sich merkwürdigerweise.
Ihr war flau und ein warmes, seltsamerweise wunderbares Gefühl strömte in ihren Bauch.
Das musste Sari sein.
Sie sprach perfekt Deutsch, wie ihr Vater gesagt hatte, perfekt und fließend, genauso fließend wie das Englisch ihrer Mutter vorhin.
Sie war wunderschön.
So schön wie Myriam damals.
Noch schöner, viel schöner.
Zwei exotisch aparte Schönheiten, die ihr den Atem raubten. Viel mehr als Tobi es jemals es gekonnt hatte.
Aber wieso dachte sie so etwas?
Caroline nahm einen Schluck Kaffee zu sich, um sich zu sammeln und ihre Nerven zu beruhigen.
Dann stand sie auf, um Sari die Hand zu reichen, die immer noch ziemlich klebrig war und lächelte Sari breit an. Sari trug ein gelbes raffiniert geschnittenes Kleid, in dem sie ein wenig ein wenig wie eine Filmschauspielerin aus dem letzten Jahrhundert aussah. Sie war sehr zierlich und obwohl sie ihr Haar wie die meisten Kambodschanerinnen lang trug, erinnerte sie Caroline etwas an Audrey Hepburn.
„Hat dir Sari gefallen?
„Was? Entschuldige bitte, ich war in Gedanken?“
Dieter hatte ein Tuk Tuk, ein kutschenartiges Gefährt, das von einem Motorradfahrer gezogen wurde, auf sich aufmerksam