Der Kobold versuchte sich vorzustellen, wie die Finsterlinge aussahen und ob sie feste oder nebelartige Körper besaßen. »Was genau sind diese Dämmer-Heinis?«
»Laut einer Legende meines Volkes waren sie Schatten, die aus den unendlichen Weiten des Kosmos angelockt und zum Leben erweckt wurden. Erschaffen von einer Macht, die ich nicht beim Namen nennen möchte, da sie noch kälter und gefährlicher als die schwärzeste Tiefe des Weltraums ist … und so alt wie die Zeit selbst.«
Shirah lief ein Schauer über den Rücken. »Brr, unheimlich«, flüsterte sie und hielt Abstand zu der Schattenpflanze, die aus der Schleimpfütze spross.
Pennyflax hatte sich mittlerweile über das Gewächs gebeugt und untersuchte es von allen Seiten. Die Schattenkristalle an den Zweigen flüsterten tatsächlich vor sich hin, jedoch konnte man keine Sprache heraushören. Er griff ein Stöckchen vom Boden, um an den Kristallen herum zu stochern. »Aber warum wächst die Pflanze am Stab von Snagglemint? Und wieso wurde er entführt?«
»Zumindest darauf scheint es nun eine Antwort zu geben, meine geschätzten Freunde«, folgerte Luno und hob seinen langen Zeigefinger. »Ihr erinnert euch, wie ich gestern bei meiner Ankunft davon berichtete, dass die Finsterlinge nicht nur das Lichtsilber der Mondvorderseite stehlen, sondern auch die Wissenschaftler und Gelehrten meines Volkes entführen? Sogar die von anderen Planeten, wie man an eurem Magiker sieht. Angesichts der Beweislage vermute ich deshalb, sie versuchen die Schattenkraft, aus der sie bestehen, zu verstärken. Ähnlich wie die Magie des Stabs den Schattenschleim zum Wachsen anregt.«
»Heißt das«, erkundigte sich Pennyflax und hackte ein Kristallstück von der Pflanze ab, »die Schurken verschleppen Magiker und Wissenschaftler, um durch deren Fähigkeiten ihre Stärke zu steigern?«
Lunos Flötenohren schaukelten, als er nickte. »So würde ich annehmen, ja. Doch weshalb sie obendrein das Lichtsilber der Mondvorderseite rauben, ist mir und meinem Volk ein Rätsel. Sie können damit nichts anfangen.«
»Hm …«, überlegte Shirah laut. »Und wenn sie von jemandem den Auftrag dazu erhalten haben, der das Silber für etwas Bestimmtes braucht? Du sagst, die Finsterlinge wurden von einer düsteren Macht erschaffen, über die du nicht sprechen möchtest. Steckt sie vielleicht hinter all dem?«
Nachdenklich wiegte der Mondmann den Kopf. »Dies wäre äußerst verhängnisvoll, meine Freunde. Etwas, das ich bis jetzt nicht zu vermuten gewagt hatte. Doch ich fürchte, ich habe keine andere Wahl, als sofort den Hohen Rat meines Volkes über die Lage zu informieren. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass die uralte Macht, die auf der Rückseite des Mondes lauert, ihren Einfluss vergrößert und ihre Diener ausschickt.«
Luno unterbrach sich, weil Pennyflax dabei war, die Schattenpflanze mit seinem Stock nach Strich und Faden zu zerlegen – etliche Kristalle waren bereits abgesplittert. »Bitte lass Vorsicht walten«, warnte er ihn und blinzelte mit seinen leuchtenden Telleraugen den Scherbenhaufen an. »Die Dunkelmagie kann gefährliche Eigenschaften entwickeln, wenn …«
Bevor der Kobold sich versah, erstarb das Flüstern, das bei der Pflanze zu hören war. Von einem Moment auf den anderen begann das schwarze Gewächs zu vibrieren und seine Kristallblätter, sowie die Splitter am Boden, fingen an zu klirren. Immer schriller ertönte das Klirren und schwoll zu einem Brausen an, das wie hundert Sturmhexen klang, die um die Wette kreischten. Wegen des immensen Lärms rieselte sogar Sand von der Decke und die Fenster bekamen Risse.
Die drei Freunde hielten sich die Ohren zu und wollten zur Eingangstür flüchten. Plötzlich zerbarst die Pflanze mit einem Knall. Sie verpuffte zu einer schwarzen Wolke, die sich verdichtete und auf Pennyflax zuschoss. Er versuchte, außer Reichweite zu springen, aber da umhüllte ihn die Wolke schon. Wie ein Wirbelsturm fauchte sie um ihn herum, zerrte an seiner Kleidung und begann, seinen Schlapphut einzufrieren.
Panisch fuchtelte er mit den Armen, hatte jedoch Schwierigkeiten, die schwarzen Rauchfinger abzuschütteln, die aus dem Wirbel hervor schossen und sich an ihm festkrallten. Nicht einmal Shirahs Entsetzensschreie oder Lunos Handzeichen registrierte er, so mühte er sich um seine Verteidigung. Als die Wirbelwolke auch noch seine löchrige Jacke mit Raureif überzog, reichte es ihm. Er riss sich das Kleidungsstück vom Leib und ließ es wie einen Propeller kreisen, um sich die Schwärze vom Leib zu halten. Unglücklicherweise beeindruckte das die Wolke überhaupt nicht, denn sie strudelte immer dichter heran, fast wie eine Schlange, die ihre Beute einschnürte.
Schließlich spürte er, wie die Kälte seine Haut vereiste und ihm in die Glieder kroch. Das bedrohliche Flüstern, das vorhin an der Pflanze hörbar gewesen war, vernahm er nun direkt in seinem Kopf. Es vernebelte seine Gedanken und erzeugte Schwindelgefühle. Wenn ihm nicht schleunigst etwas einfiel, würde er das Bewusstsein verlieren. Oder gar erfrieren.
Doch da passierte etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte: Vor drei Tagen waren ihm und Shirah am Hof des Elfenkönigs die Regenbogen-Orden verliehen worden. Eine Auszeichnung dafür, dass sie zum Sieg über Hexenmeister Sulferion und zur Verständigung der Völker Eraluvias beigetragen hatten. Seit der Verleihung hatte Pennyflax den Orden nicht abgelegt und trug das schillernde, zwölfeckige Amulett an einer Kette um seinen Hals. Und genau jenes Amulett begann auf einmal zu leuchten. Ein Leuchten, das in Sekundenschnelle zunahm, bis es sonnenhell strahlte und das gesamte Haus mit seinem Glanz durchflutete.
Noch während er wegen des Schattenwirbels wie in der Arktis bibberte, starrte er verblüfft auf seine Brust. Das Licht des Amuletts blendete ihn dermaßen, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Zudem begann er, eine Melodie zu hören, die ebenfalls von dem Anhänger ausging und die das bedrohliche Flüstern in seinem Kopf zum Verstummen brachte. Augenblicklich ließ die Kälte nach, die ihn einhüllte, und eine wohlige Wärme strömte in seinen Körper zurück. Durch seine halb geschlossenen Lider vermochte er zu erkennen, wie der Schattenwirbel aufhörte zu rotieren, sich im Licht auflöste und verpuffte. Schließlich verflog der letzte schwarze Dunst und das Leuchten seines Regenbogen-Amuletts verblasste.
Vorsichtig öffnete der Kobold die Augen.
Ein Tropfen Tauwasser löste sich von seiner Nase.
Er blinzelte und wagte nicht, sich zu rühren. Im Raum herrschte Stille, die nur von der leisen Melodie des Amuletts unterbrochen wurde.
Jemand gab ihm eine Ohrfeige, aber erst als dieser Jemand seine Schultern packte und schüttelte, erkannte Pennyflax das angstverzerrte Gesicht von Shirah.
»Sag doch was!«, schrie sie ihn an. »Haste Schmerzen?«
»Alles in B… Buttermilch«, stotterte er und hielt sich an ihr fest. Die Verwirrung war ihm deutlich anzusehen, weil ihm etwas Ähnliches nie zuvor widerfahren war. Seine Beine zitterten, und auf seiner braunen, rindenartigen Koboldhaut hatten sich Frostbeulen gebildet. Er stülpte seinen Schlapphut über die Wuselhaare und rieb sich die Wange. »Autsch! Wofür war die Ohrfeige?«
Shirah stemmte die Hände in die Hüften und schimpfte: »Die war für deine Leichtsinnigkeit, die Schattenpflanze kaputt zu stochern!« Rasch umarmte sie ihn und gab ihm einen Kuss. »Bin aber froh, dass es dir gutgeht.« Als sie sich von ihm losmachte, fiel ihr Blick auf sein Regenbogen-Amulett, das noch glomm. »Wow … das Licht hat den Schattenwirbel vertrieben und dir dein Leben gerettet!« Sie zog ihr eigenes Amulett unter ihrem Kleid hervor und hielt die beiden glänzenden Scheiben nebeneinander. »Und meines leuchtet auch heller als sonst!«
»Dreimal verlauster Grottenolm!«, staunte Pennyflax. Zum ersten Mal seit der Ordensverleihung betrachtete er die Anhänger mit anderen Augen. Hatte er sie zuvor nur für nette Schmuckstücke gehalten, so begann er nun, an die Legende ihrer Herkunft zu glauben. Denn angeblich stammten sie von götterähnlichen Wesen, die vor Urzeiten auf die Welt herab gestiegen waren. Jene Wesen hatten die Amulette allen Völkern Eraluvias geschenkt und dadurch für Frieden gesorgt.
Luno näherte sich den Kobolden und machte ein Gesicht, als