Shirah schürzte die Lippen und tadelte ihren Freund: »Erstens bist du ein Angeber, der genau weiß, dass Sulferion von uns allen besiegt wurde … nicht nur von dir allein! Erinnerst du dich? WIR BEIDE haben dafür die Regenbogen-Orden vom Elfenkönig verliehen gekriegt. Und zweitens versuchst du durch deine Sprücheklopferei nur von deiner Faulheit abzulenken. Ich hab das Hügeltraining schließlich auch in zwei Minuten geschafft.« Die Koboldin holte ein Glas mit eingelegten Maden aus ihrem Beutel und flötete verführerisch: »Wenn du meine Bestzeit schlägst, kriegst du so viele Nährstoffe zur Belohnung, wie du verdrücken kannst!«
Pennyflax lief beim Anblick der Maden das Wasser im Mund zusammen, und für eine Sekunde geriet er in Versuchung, den Hügel erneut in Angriff zu nehmen. Doch aus Gründen der Selbstachtung entschied er sich dagegen – niemals würde er sich für ein Frühstück erpressen lassen. »Nee danke«, lehnte er tapfer ab, stülpte seinen Schlapphut über die Wuselhaare und schlenderte den Hang hinunter. »Für die ganze Mühe mit der Rennerei komme ich nicht mal ins Dünnesbuch der Rekorde. Lass uns lieber zum Dorf zurückgehen und Luno fragen, ob wir den Quatsch nicht überspringen können.«
Bevor sich Shirah über seinen fehlenden Ehrgeiz beschweren konnte, entdeckten sie in einiger Entfernung Schlonzo, der die Rauschebachbrücke überquerte und ihnen entgegen hetzte. Schlonzo war Garstingens Tüftler, dessen Erfindungen den zweiundfünfzig Kobolden, die im Dorf lebten, schon so manche Erleichterung im Alltag beschert hatte. Der vor allem durch seine selbst geschmiedeten Rüstungen und gebastelten Fallen dazu beigetragen hatte, die Goblintruppen Sulferions an der Eroberung von Garstingen zu hindern.
Schlonzo winkte aufgeregt und rief den beiden zu: »Miesepetrigen Morgen. Ihr solltet schleunigst antanzen, denn unser Mondmann hat was Interessantes in Snagglemints Haus entdeckt!«
Pennyflax’ Miene verdüsterte sich. Schlagartig fiel ihm wieder der zweite, tragische Grund ein, warum er sofort zum Mond musste: Meister Snagglemint wurde vermisst, der Magiker Garstingens. Hatte der Alte noch vorgestern Abend an der Siegesfeier auf dem Dorfplatz teilgenommen, war er gestern früh bei der Landung von Lunos Raumschiff nicht aufgetaucht. Daraufhin hatte man seine Behausung durchsucht, doch offensichtlich war Snagglemint entführt worden. Und alle Spuren deuteten darauf hin, dass auch in diesem Fall die Finsterlinge des Mondes hinter der Tat steckten.
»Brauchst mich nicht zweimal zu bitten«, knurrte Pennyflax Schlonzo zu, legte einen Blitzstart hin und rannte in Richtung Dorf zurück.
Shirah staunte, zu welchen Höchstleistungen ihr Freund fähig war. »Auf einmal geht’s mit der Schnelligkeit, ja?!«, rief sie ihm hinterher. Sie zückte ihre Stoppuhr, beobachtete den Zeiger und musste ihm neidvoll eine Bestzeit bescheinigen. Anschließend heftete sie sich an seine Fersen.
Pennyflax erreichte in Windeseile die aus Steinen gemauerte Brücke, flitzte darüber hinweg und kam beim Wäldchen an, in dem Garstingen lag. Hier, im ersten Haus am Dorfrand, einem umgestürzten und hohlen Baumstamm, hatte bis zu seiner Entführung Meister Snagglemint gewohnt. Bestens zu erkennen an dem Schild, das über der Eingangstür prangte, auf dem stand: »Magiker für alle Gelegenheiten und Verwegenheiten«.
Kann ich nur bestätigen, dachte Pennyflax bei sich, während er mit Schwung die Tür aufriss. Weil der Alte nämlich so weise und gebildet war, hatte er immer Rat gewusst, wenn es darum ging, Geheimnisse zu enträtseln oder Gefahrensituationen zu meistern. So wie bei der Attacke des mächtigen Drachen Pyros, die erst eine Woche zurück lag. Der Feueratem des Lindwurms war dank Snagglemints Gewitztheit an einer Energieglocke abgeprallt, die er über das Dorf gezaubert hatte. Doch das, was Pennyflax am meisten schätzte, war die tiefe Freundschaft, die sie miteinander verband. Wehe, wenn die Entführer-Schurken ihm auch nur ein einziges Warzenhaar gekrümmt haben!, schimpfte er innerlich und betrat den Wohnraum der Behausung.
Er stoppte abrupt und ließ den Blick über den Tatort schweifen. Ihm bot sich dieselbe Szenerie wie gestern früh, als er auf der Suche nach dem Magiker in dessen Heim gestürmt war: Sämtliche Möbel waren umgeworfen, die Bücher aus den Regalen lagen am Boden verstreut und der Teekessel hatte eine Delle – alles eindeutige Zeichen eines Kampfes. Das Auffälligste aber war das riesige Loch, das in der Decke klaffte, sowie die schwarze Substanz, die an den Rändern des Lochs klebte. Es handelte sich um eine Art Schleim, der flimmerte und fürchterlich nach Teer stank. Auch am Boden haftete einiges von dem Schattenschleim, weshalb man aufpassen musste, wo man hintrat.
»Ekliger Glibber«, murmelte der Kobold, durchquerte im Zickzack das Zimmer und bemerkte hinter einem umgestürzten Bücherregal einen Lichtschein. Das konnte nur Luno sein, der angeblich in dem ganzen Chaos etwas entdeckt hatte. Nachdem er einen großen Schritt über eine weitere Schleimpfütze gemacht hatte, erblickte er den Mondmann, der am Boden kniete und sich nun erhob.
Luno, dessen voller Name Lunosilubra lautete, besaß eine blasse, silbrig schimmernde Haut, leuchtende Telleraugen sowie Flötenohren, die auf seinem Kopf in die Höhe ragten. Seine Kleidung bewegte sich so leicht wie Geistertuch im Wind, und aufgrund seiner Körpergröße von fast einem Meter musste er sich bücken, da dies eine Koboldbehausung war. Nur mit Mühe vermied er es, sich den Kopf an der Lampe zu stoßen, drehte sich um und lächelte seinem Freund entgegen.
»Ich wünsche dem mutigen Pennyflax einen wohligen Tagesbeginn«, säuselte Luno mit einer Stimme, die aus großer Ferne zu kommen schien.
»Miesepetrigen Morgen, heißt das in Garstingen!«, berichtigte Pennyflax den Gast vom benachbarten Himmelskörper und schmunzelte über dessen Ausdrucksweise. Sogleich wurde er wieder ernst und erkundigte sich: »Hast du eine Spur gefunden, die uns verrät, wohin genau die Finsterlinge unseren Magiker entführt haben? Der Mond ist schließlich groß.«
»Bedauerlicherweise nein«, säuselte Luno und blinzelte mit seinen Telleraugen. »Die Entführer können nur zur dunklen Seite meines Heimatplaneten geflüchtet sein, aber es weist nichts auf einen bestimmten Ort hin. Ich habe allerdings eine Entdeckung gemacht, die von höchstem Interesse für uns ist.« Er wies auf den Boden, wo eine Pfütze des Schattenschleims vor sich hin flimmerte. Daneben lag der Zauberstab von Meister Snagglemint, in dessen Spitze ein grüner Smaragd eingelassen war. Der Alte musste ihn beim Kampf mit seinen Entführern fallengelassen haben, weshalb die Stabspitze nun in der Schleimpfütze lag.
»Verzwurbeldingst!«, entfuhr es Pennyflax vor Überraschung. Denn um jene Stabspitze herum hatte sich ein Gewächs gebildet, das aus Schattenkristallen bestand und nur durch die Magie des Stabs gewachsen sein konnte. Wenn er sich nicht täuschte, hörte er sogar ein Flüstern, das von der schwarzen, funkelnden Pflanze ausging. Wachsam näherte er sich dem Gebilde, beugte sich hinunter und wollte es gerade inspizieren, als es hinter ihm klackte. Er zuckte zusammen und fuhr herum – Shirah betrat die Wohnstube.
»Und?«, schnaufte die Koboldin. »Was habt ihr da gefunden?«
Pennyflax stieß die Luft aus. »Hast mich ganz schön erschreckt!« Er winkte seine Freundin heran und warnte sie: »Das hier musst du dir ansehen. Aber tritt nicht in die Schattengülle.«
Sie balancierte über einige Schleimpfützen hinweg, hielt sich die Nase zu und stöhnte: »Igitt! Das Zeugs stinkt noch schlimmer als die Schwefelgruben im Feuerberg. Wieso verlieren die Finsterlinge eigentlich diesen Teerglibber?«
»Weil jene Wesen von der dunklen Seite des Mondes stammen, geschätzte Shirah«, erklärte Luno und reichte ihr beim letzten Schritt die Hand. »Als die Finsterlinge hier eintrafen, waren sie weit von ihrer Heimat entfernt, einem Ort, an dem Dunkelmagie allgegenwärtig ist. Bewegen sie sich fort von dort, verlieren sie einen Teil der Magie, aus der sie bestehen. Sie tropft buchstäblich aus ihren Körpern heraus.«
»Schade«, brummte Pennyflax grimmig. »Dachte schon, sie hätten sich im Tageslicht den Pelz verbrannt, als sie Snagglemint entführten.«
Luno