Dafür wartete vor dem Klassenzimmer das nächste Problem auf Leon. Mia stand mit Jasmin neben der Tür und kicherte. Als sie Leon sahen, verabschiedete sich Jasmin, ohne Leon eines Blickes zu würdigen.
»Morgen Leon. Na, alles klar?« Mia strahlte ihn an, als ob nichts gewesen wäre.
Leon, der sich fest vorgenommen hatte, erst beim allmontaglichen Pizzaessen was zu sagen, platzte der Kragen. »Alles klar? Alles klar? Nein, es ist eben nicht alles klar, und als meine beste Freundin solltest du das eigentlich wissen.«
Mia schrak merklich zusammen. »Was ist denn mit dir los? Wenn ich irgendwas falsch gemacht hab, tut's mir leid, ehrlich.«
Leon verdrehte die Augen. Normalerweise mochte er Mias naive Art ja wirklich gerne, aber in solchen Momenten ging es ihm einfach nur auf den Keks. Er zog sie ein Stückchen beiseite, um die anderen Schüler vorbeizulassen. Es hatte bereits zur ersten Stunde geläutet, und Herr Feldner konnte jeden Moment kommen.
»Ich versteh dich einfach nicht, Mia. Kannst du dir denn nicht denken, wie's mir geht? Du und Pitt, ihr schleppt mich in diese blöde Disco, und ich lass mich sogar auf den ganzen Flirt-Mist ein.«
»Du darfst nicht gleich aufgeben, Leon. Das wird schon noch, wir gehen einfach nächstes Wochenende …«
»Darum geht's doch gar nicht«, unterbrach Leon sie und senkte die Stimme noch etwas, da man ihnen bereits neugierige Blicke zuwarf.
»Worum geht es denn dann?«, fragte Mia nun merklich gereizt. »Sag es endlich oder lass es.«
Du kannst mich mal, hätte Leon am liebsten geschrien, aber er zögerte. Genau in diesem Moment kam ihr Geschichtslehrer Herr Feldner auf sie zu. »Na, brauchen Sie eine Extraeinladung?«, fragte er und hielt ihnen die Tür zum Klassenzimmer auf.
Leon war Mia und Pitt den ganzen Schultag über so gut wie möglich aus dem Weg gegangen. Mia war sauer, das hatte sie ihm im Geschichtsunterricht deutlich zu verstehen gegeben. Auch wenn er überhaupt nicht verstand, warum sie jetzt sauer war. Immerhin hatte sie überhaupt keinen Grund dazu. Aber wahrscheinlich musste er es auch nicht verstehen. Sie war immerhin ein Mädchen und hatte damit von Geburt an das Recht, einfach grundlos sauer zu sein. Er hatte nicht mal nach der Schule auf die beiden gewartet, so wie er es sonst immer tat, aber es hatte nichts genützt. Als es nun an der Tür klingelte, wusste er, dass es die beiden waren. Am liebsten hätte er gar nicht aufgemacht, aber nach dem dritten Läuten öffnete er dann doch. »Was soll denn das?«, fragte Pitt und trat einfach ein. »Krieg ich heut etwa keine Pizza?« Mia folgte Pitt wort- und grußlos in die Küche. Leon zögerte einen Moment, bevor er die Tür schloss. Als er ebenfalls in die Küche kam, stand Pitt bereits vor dem geöffneten Gefrierschrank und angelte eine Salamipizza heraus. »Mia, Leon?« Fragend sah er sie an. »Vier Käsesorten«, antworteten beide fast gleichzeitig. Pitt holte zwei weitere Pizzen aus dem Gefrierschrank und schob die erste Pizza in den Ofen. Dann suchte er im Kühlschrank nach drei Colaflaschen. Er reichte jedem eine und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Nachdem er einen großen Schluck Cola genommen hatte, sah er Leon einen Moment an. »Also, nun spuck's schon aus. Was ist los?« Leon seufzte. »Könnt ihr euch das echt nicht denken?« »Leon, du machst mich noch wahnsinnig. Würdest du bitte einfach sagen, was dir nicht passt, statt die ganze Zeit um den heißen Brei zu labern«, meinte Mia. Seit sie gekommen war, sah sie ihn zum ersten Mal an. Leon verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich fand's einfach nicht okay, wie das am Samstag gelaufen ist.« »Und deshalb machst du so einen Aufstand? Ich hab dir doch gesagt, dass das alles nur Übungssache ist.« »Darum geht's nicht, Mia, und das hab ich dir vorhin auch schon mal versucht zu sagen. Es geht darum, dass ich plötzlich abgeschrieben war, nachdem Patrick aufgetaucht ist.« »Patrick ist eben gut im Flirten. Von ihm kannst du mit Sicherheit noch was lernen. Mehr als von mir.« »Mag ja sein, aber auch das ist nicht der Punkt. Er kann mich nicht leiden.« »Das beruht ja wohl auf Gegenseitigkeit.« Leon überhörte Mias Einwand und fuhr fort: »Und deshalb ist ihm jede Gelegenheit recht, sich allein oder mit den anderen über mich lustig zu machen oder mich zu blamieren. Genau wie am Samstag.« »So schlimm war das nun wirklich nicht. Außerdem hat Patrick dich nicht absichtlich blamiert.« Beim letzten Wort malte Mia Gänsefüßchen in die Luft. »Doch, das hat er«, kam Pitt seinem Freund zu Hilfe, »und das weißt du ganz genau, Mia. Das war wirklich 'ne miese Tour, aber«, wandte er sich nun an Leon, »die Frage ist, ob man sich das gefallen lässt oder nicht.« »Du sagst das so einfach«, antwortete Leon. »Es ist ja auch so einfach«, erwiderte Pitt und nahm noch einen Schluck Cola. »Da bringt man einen blöden Spruch und alle lachen. Nicht über dich, sondern über den Spruch, und dann ist's gut. Wirklich Leon, du musst da viel lockerer werden.« Leon sah seufzend zu Boden. »Mag ja sein, dass ich einfach nicht locker genug bin, aber das Mädchenthema ist nun mal mein wunder Punkt.« »Deshalb wollen wir dir ja helfen«, meinte Mia nun etwas versöhnlicher. »Ich weiß, und ich bin euch auch dankbar dafür. Aber ich fand's scheiße, dass ihr mich am Samstag im Stich gelassen und euch lieber amüsiert habt.« »Na hör mal, du bist doch abgehauen«, sagte Pitt. »Ich wollte ja noch mit dir reden, aber du hast mich einfach ignoriert.« »Schon, aber ich hätte keinen von euch beiden nach der Sache so gehen lassen.« Abwechselnd sah Leon seine Freunde an. »Mich hat das wirklich getroffen, auch wenn ihr das vielleicht nicht verstehen könnt.« »Was meinst du denn jetzt?«, fragte Mia. »Die Sache mit Patrick oder dass wir dir nicht gefolgt sind?« Leon seufzte. »Beides. Und ich hätte es schön gefunden, wenn ihr euch dann wenigstens am Sonntag noch mal gemeldet hättet. Ich hab den ganzen Tag auf ein Lebenszeichen von euch gewartet.« Mia wirkte zerknirscht. »Ja, ich weiß. Ich hatte dich eigentlich anrufen wollen. War keine Absicht.« Leon nickte. Was hätte er auch sonst tun sollen? Mia und Pitt waren seine einzigen Freunde, und auch wenn sie nicht immer wie er tickten und ihn nicht immer verstanden, waren sie neben seiner Oma doch alles, was er hatte.
War er wirklich nicht locker genug und sah die Dinge manchmal zu ernst? Nachdem Mia und Pitt gegangen waren, dachte Leon noch lange darüber nach, während er auf seinem Bett saß und das Nirvana-Album Nevermind zum dritten Mal von vorne anfing. Vielleicht machte er sich das Leben wirklich selbst schwer. Wenn er sich einfach mal mit Pitt verglich … Okay, Pitt sah natürlich deutlich besser aus und war auch um einiges sportlicher, da brauchte sich Leon nichts vorzumachen. Hinzu kam, dass er nicht blöd war. Manchmal vielleicht ein bisschen faul, doch im Grunde war er gut in der Schule. Das eigentliche Geheimnis, warum Pitt bei allen so beliebt war, lag aber darin, dass er total locker war und alles mitmachte. Mit ihm konnte man Pferde stehlen und viel Spaß haben, und Spaß schien allen anderen das Wichtigste überhaupt zu sein. Warum war Leon selbst nur so unbeliebt und fand nur so schwer Freunde? Gut, er sah nicht sonderlich umwerfend aus, aber das taten andere auch nicht und fanden trotzdem Anschluss. Seine Unsportlichkeit schien da schon ein größeres Problem zu sein. Aber sollte er jetzt deshalb wie Pitt den Großteil seiner Zeit auf dem Fußballplatz rumrennen? Leon war intelligent und hatte gute Noten. Oft wurde er als Streber beschimpft, aber er sah nicht ein, sich seinen Notendurchschnitt zu versauen, nur damit er dadurch eventuell Freunde fand. Außerdem war er ja nicht verbissen. Es war nicht so, dass er nichts außer lernen tat. Eher im Gegenteil, die guten Noten flogen ihm einfach so zu, ohne dass er viel dafür tun musste. Alle anderen mussten richtig dafür kämpfen. Ob sie vielleicht eifersüchtig auf ihn waren? Er überlegte weiter. Er hatte keine coolen Hobbys, so wie die anderen. Hatte er überhaupt Hobbys? Er las viel und hatte Spaß daran, im Altenheim auszuhelfen. Das verstanden die anderen meist weniger. Zwar hörte er wie seine Mitschüler auch gerne Musik, aber natürlich war es nicht die »richtige« Musik. Leon stand mehr auf Nirvana und Linkin Park zu ihrer frühen Zeit. Das hörten die anderen zwar auch, aber nicht ausschließlich. Und wer kein Hip Hop oder Rap mochte, war sowieso sofort unten durch. Immerhin war er kein Freak, der den ganzen Tag bloß dämliche Computerspiele spielte, Star Trek schaute oder in einer LARP-Gruppe war. Das alles interessierte ihn nicht die Bohne. Aber das größte Problem lag wohl darin, dass er einfach nicht so gerne feiern ging wie die anderen. Er sah keinen Sinn darin, sich jedes Wochenende zu besaufen. Und mit dem Rauchen wollte er auch nicht anfangen.