So schnell ich konnte, rannte ich die Korridore der Schule entlang. Mein Herz raste, dass ich meinte, es müsste jeden Moment zerspringen.
Dennoch hatte ich das Gefühl, die Welt wäre stehen geblieben. Alles, was ich sah, sah ich in Zeitlupe: geschockte Gesichter, Angst, Tränen, Ungläubigkeit. Niemand wunderte sich darüber, dass ich durch die Korridore hetzte, oder beschwerte sich gar, wenn ich gegen ihn stieß. Ich blickte nur in geschockte Gesichter. Sie alle versuchten, das Geschehene zu verstehen. Ich rannte gegen den Strom, das wusste ich, aber ich hatte keine Wahl.
Auch ich versuchte, es zu verstehen, zu begreifen. Das konnte nicht wahr sein. Nein, es durfte einfach nicht die Wahrheit sein. Anne musste sich geirrt haben. So etwas würde er nie tun, dafür kannte ich ihn zu gut.
Aber wie gut konnte man einen Menschen wirklich kennen? Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf und jagte mir Angst ein. Leon hatte sich verändert. Und trotzdem.
Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich befürchtete, meine Knie könnten unter mir nachgeben. Aber eine innere Kraft trieb mich voran. Ich stieß gegen ein junges in Tränen aufgelöstes Mädchen, ohne es wirklich wahrzunehmen, und rannte weiter.
Als ich schließlich um die letzte Ecke bog und mit einigen Sekunden Verzögerung schmerzhaft feststellte, dass es kein Irrtum war, drehte sich für einen Moment alles um mich herum, und mir wurde schlecht.
Alle Stimmen verschwammen und wurden zu einem Ganzen, bis ich sie gar nicht mehr wahrnahm. In meinen Ohren rauschte das Blut, und mein Herz hämmerte so schnell in meiner Brust, dass ich fürchtete, es könnte jeden Moment aufhören zu schlagen.
Nein, ich fürchtete mich nicht davor, ich wünschte es mir in diesem Moment sogar, denn alles wäre leichter zu ertragen gewesen als dieser Anblick.
Dort stand er, Leon, mein bester Freund. Mit einer Waffe in der Hand. Als er mich erblickte und mir direkt in die Augen sah, hätte ich meinen Blick fast abgewandt. Er sah so traurig aus, so verzweifelt, dass ich schlucken musste, um auch nur ein Wort herauszubringen.
»Leon«, sagte ich kaum hörbar. »Leon. Bitte tu das nicht.« Ich musste erneut schlucken, um weiter sprechen zu können. In meinen Augen brannten Tränen, doch ich hielt sie mit aller Macht zurück. Ich musste jetzt stark sein, für Leon. »Es wird alles wieder gut, das versprech ich dir.«
Einen langen Moment sah er mich an, bevor er antwortete. Auf seinen Lippen war der Ansatz eines Lächelns zu sehen. »Das wird es nicht, Mia. Und das weißt du. Aber es ist okay. Leb wohl!«
»Leon, nein«, stammelte ich immer wieder und trat einen Schritt näher an ihn heran. Tränen schossen mir nun endgültig in die Augen und verschleierten meinen Blick, aber ich konnte trotz allem erkennen, dass Leon die Hand mit der Waffe hob und die Mündung gegen seinen Kopf drückte.
»Nein«, schrie ich und rannte auf ihn zu.
Drei Monate zuvor
Emilia
Sonntag, 21. April, 20 Uhr Liebes Tagebuch …
Kann das Leben noch schöner sein? Er hat mich geküsst. Patrick hat mich endlich geküsst. Ach, ich könnte die ganze Welt umarmen, so glücklich bin ich. Ich kann es kaum erwarten, dass endlich Montagmorgen ist und wir uns in der Schule wiedersehen. Ist das zu glauben? Wer hätte gedacht, dass ich mich noch mal auf die Schule freuen würde?! Wenn das meine Eltern wüssten. Oh Mann, vielleicht sollte ich mir ein besseres Versteck für mein Tagebuch suchen. Egal, was mach ich denn jetzt noch mit diesem wundervollen Abend? Mal wieder »Breaking Dawn« gucken? Nein, ich kann mich jetzt nicht konzentrieren, nicht einmal auf Robert Pattinson. Am besten, ich ruf Jasmin an. Hoffentlich ist sie da. Oh, ich bin ja so glücklich!!!
»Nun erzähl schon, Mia«, drängte Jasmin und zog mich beiseite.
Wir standen eng beieinander vor unseren Schließfächern. Im Gang war es laut und voll, aber wir hatten noch ein paar Minuten, bis es zur ersten Stunde klingeln würde.
»Ich hab dir doch gestern schon alles erzählt«, erwiderte ich grinsend.
»Egal, nun schieß schon los. Ich will alles wissen, jedes kleine Detail.«
»Also«, begann ich und genoss es, Jasmin noch ein wenig auf die Folter zu spannen, bevor ich weitererzählte: »Ich war mit Anne zum Schwimmen verabredet. Während ich da so vor dem Eingang stehe und auf sie warte, weil sie natürlich wie immer zu spät ist …«
»Natürlich«, unterbrach Jasmin mich und verdrehte die Augen.
»… steht auf einmal Patrick vor mir. So allein?, fragt er mit tiefer Stimme.« »Oh ja, seine Stimme ist fast so sexy wie die deutsche Synchro von Ian Somerhalder.« Ich lächelte verschmitzt und seufzte. »Ich weiß, seine Stimme ist wirklich sexy.« »Wessen Stimme ist sexy?«, fragte jemand Vertrautes neben mir. Ich drehte mich zur Seite und sah Leon. Er hielt mit beiden Händen die Träger seines dunklen Rucksacks, den er auf den Schultern trug, und lächelte mich an. Nun beugte er sich ein Stückchen zu mir vor, und ich gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Hi, Leon.« »Morgen. Also, was hab ich verpasst?« »Ich bin dann mal weg, wir sehen uns später«, meinte Jasmin zu mir, die Leon weder gegrüßt noch beachtet hatte. Nun warf sie mir noch einen eindringlichen Blick zu, bevor sie im Gewühl verschwand. »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich zähneknirschend für Jasmins Verhalten, während wir uns gemeinsam auf den Weg zum Geschichtsunterricht machten. Doch falls sie Leon verletzt hatte, ließ er sich nichts anmerken. »Ach was, nun vergiss die mal. Sag mir lieber, von wem ihr gesprochen habt.« »Du lässt nicht locker, oder?« Leon grinste. »Nö.« »Es ging um Patrick«, antwortete ich und konnte nicht verhindern, dass ich zu strahlen begann. »Patrick, verstehe. Dann habt ihr euch am Wochenende gesehen?« »Kann man so sagen. Wir waren gestern mit ein paar Leuten schwimmen und danach noch allein ein Eis essen, und dann hat er mich geküsst.« Ich wusste, dass ich mich in diesem Moment nicht wie eine Sechzehnjährige anhörte, aber das war mir egal. Das war schließlich Leon, einer meiner besten Freunde. »Das freut mich für dich.« Er machte eine kurze Pause. »Das sollte es doch, oder?« Ich verdrehte die Augen. »Blödmann, das weißt du doch.« »Dann seid ihr jetzt also zusammen?«, fragte Leon ohne mich anzusehen. Ich zuckte mit den Schultern. »Das wird sich noch zeigen.« Leon runzelte die Stirn. »Das muss ich jetzt nicht kapieren, oder?« »Nein, musst du nicht«, antwortete ich seufzend und hielt ihm die Tür zu unserem Klassenzimmer auf.
»Welche Pizza wollt ihr?«, fragte Leon, der im Gefrierschrank herumwühlte. Nun sah er Pitt und mich an. Wie jeden Montagnachmittag trafen wir drei uns nach der Schule noch bei Leon, um Pizza zu essen und zu quatschen.
»Ich nehm Salami«, antwortete Pitt, ohne nachzudenken.
Leon verdrehte die Augen. »Was für eine Überraschung.«
Pitt aß jeden Montag Salamipizza. Leon und ich hatten uns schon öfter gefragt, warum sie ihm nicht langsam zum Hals raushing.
»Was ist mit dir?«, fragte Leon nun mich, während er eine Salamipizza aus dem Gefrierschrank angelte.
»Ich glaub, ich nehm heut mal Thunfisch.«
»Thunfisch, wirklich?«, meinte Pitt und grinste mich an. »Sind da nicht Zwiebeln drauf?«
Verständnislos sah ich ihn an. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er auf Patrick anspielte. »Mann Leon, du hast es ihm gesagt.« Ich stieß Leon mit meinem Ellenbogen fester in die Rippen als geplant, sodass er meine Thunfischpizza wieder zurück ins Eisfach fallen ließ.
Lachend rieb er sich die Seite. »Woher sollte ich wissen, dass es ein Geheimnis ist? Schließlich hast du es ja selbst jedem erzählt.«
»Mensch Mia, ich gehöre zu deinen besten Freunden, schon vergessen?«, meinte Pitt und legte mir einen Arm um die Schultern. Nun senkte er seine Stimme, er sprach aber trotzdem laut genug, dass Leon jedes Wort verstand. »Worauf steht er denn bei dir so? Als er noch mit Sabine zusammen war, hat er immer von ihrem