"Hast du keine Angst?"
"Nein, warum sollte ich?"
"Also wenn ich mir die Nachrichten so anschaue – vergeht kein Tag in diesem Flüchtlingslager, an dem nicht irgendwas hochgeht oder brennt."
"Glaub doch nicht alles, was dort gezeigt wird."
"Wem soll ich denn sonst glauben?"
"Glaub es einfach mir."
"Schickst du mir mal eine Nachricht?"
"Ich werde versuchen, daran zu denken."
"Aber du kommst doch noch am Samstag."
"Nein. Es geht nicht."
"Und warum nicht?"
"Ich müsste erst zum Sicherheits-Check. S2-Standards."
"Du musst das doch nicht an die große Glocke hängen. Geht doch niemand etwas an, welchen Gott du anbetest."
"Hab mich für den Roten Halbmond gemeldet."
"Ja und?"
"Dann sind die neugieriger."
"Ich verstehe nicht ..."
"Zwei Onkel sind Imame in Moscheen. Eine davon steht unter Beobachtung. Ich kann mich da nicht einfach über das Netz mit meiner ID für den S2-Besuch anmelden. Da müsste Julia eine Einladung hinschicken."
"Und das geht dir gegen den Strich."
"Aber sowas von. Außerdem gibt es Samstag noch genug zu tun."
Lena nickte. Ein Grund mehr sich gar nicht erst in einer S2 einzunisten, dachte sie, zufrieden darüber, dass Malte sie zum Abschied dieses Mal fest an sich drückte. Er winkte ihr zu, als das Fahrzeug mit einem Sirren losfuhr, und Lena sah dem Wagen nach, bis er um die Ecke verschwunden war, kehrte um und ging zum Haus zurück.
Im Flur angekommen, konnte sie sehen, wie Julia angeregt mit ihrer Mutter sprach, während sie gemeinsam im Wohnzimmer Gläser und Geschirr wegräumten. Lena warf einen Blick in die Küche, wo Erhan und Gerhard beschäftigt waren. Das hieß, während der Ältere den Kaffeeautomaten reinigte, stand der Jüngere mit einem Lappen in der Hand daneben und redete und redete.
Lena kannte das Gesicht, mit dem der Vater vor sich hin polierte, den stieren Blick, der nichts anderes bedeutete, als dass er sich einfach auf die Couch setzen, nichts hören und nichts sagen wollte. Und sie konnte ihn gut verstehen.
Julia eilte mit einer Mülltüte an Lena vorbei, selbst sie bemerkte Erhans Müdigkeit.
"Ich denke, wir sollten auch bald fahren", sagte sie. Sie packten noch einen Teil der übergebliebenen Lebensmittel vom Buffet ein und machten sich auf den Weg.
Eine Viertelstunde später stand Lena mit den Eltern im Wohnzimmer an der Terrassentür, umarmte beide und wünschte ihnen noch einen guten Abend und eine gute Nacht.
"Und du willst wirklich in deinem Zimmer schlafen?", fragte Ruth.
"Ja, ich denke, das ist kein Problem", antwortete Lena. Sie griff nach ihrer Reisetasche und trat hinaus. "Wäre sie in ihrer Wohnung gestorben, würde ich das wahrscheinlich nicht tun."
"Wenn du meinst."
"Alles in Ordnung, Mutter." Lena nickte ihnen zu und ging nach draußen, folgte dem Weg, der zum Anbau führte. Dort hatte sich die Großmutter eingerichtet, nachdem ihr Mann Christian gestorben war. Im Erdgeschoss befand sich eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad. Die beiden Räume unter dem Dach waren für Lena reserviert. Dort hatte sie auch den Teil der Möbel, der nicht ins Studentenzimmer passte. Außerdem könnte sie dort wohnen, falls sie nach dem Studium nicht sofort eine Arbeit finden würde. Die Studentenheimleitung war in dieser Hinsicht ziemlich konsequent. Wer nicht sofort etwas fand, hatte ein echtes Problem. Die Mieten in der Stadt waren teuer. Und wer wollte schon in einem der Vororte dahinvegetieren. Andererseits – Lena stoppte für einen Moment und holte tief Luft, kühle Herbstluft strömte in ihre Lungen – so übel war es hier nicht.
***
Die Katze leckte im Napf herum, als wäre dies ihre erste Mahlzeit seit Tagen gewesen. Das Raspeln der Zunge zerkratzte die gespannte Stille.
"So kannst du nicht vor deinen geliebten Jesus treten, lieber Vater“, knurrte Frederik Graber und das Tier hielt inne. Seine Augen funkelten, als es den Mann fixierte. "Na los, sag schon!", schob er hinterher. Sein Zorn schien die Luft so aufzuladen, dass die Katze ihre Mahlzeit unterbrach und nur mit zuckender Schwanzspitze vor seinem Napf hockte.
"Semra ... Semra Radeke", kam es leise vom Bett.
Frederik Graber sprang vom Stuhl auf und stach mit dem Finger in Richtung Radekes, als wolle er jemand aufspießen.
"Diese Semra war es? Sie war meine Mutter?", rief er und die Graue schoss zum Sofa, schlüpfte unter den Kleiderhaufen.
"Hätte ich bloß nichts gesagt", stöhnte der Alte.
"Man beichtet so einiges, wenn der Sensenmann hinter einem steht", ätzte Graber. Er hatte mutigere Männer gesehen, wie sie im Angesicht des Todes nach ihren Müttern riefen und wie sie ihre Schuld bereuten.
„Die werden es nicht glauben“, kam die Stimme vom Bett.
„Ein DNA-Test beweist das.“
„Du kannst sie nicht zwingen.“
„Dann sag du ihnen, dass ich Erhan Radekes Halbbruder bin.“
„Ich kann nicht.“ Der Alte schloss die Augen und drehte sein Gesicht zur Wand.
Graber hörte ein Rascheln und sah zur Couch, betrachtete für eine Weile den Jackenhaufen, wie sich unter ihm eine Beule abzeichnete, die sich hin und her bewegte. 'Verdammtes Vieh' murmelnd öffnete er das Fenster, riss die Jacke weg, packte die Katze und ließ sie über den Sims hinweg ins Gras plumpsen. Aus den Augenwinkeln konnte er Lena Radeke sehen, wie sie vor der Tür zum Anbau stand. Er klatschte sich die Katzenhaare von den Händen, zupfte welche von den Ärmeln und blickte auf.
***
Lena hatte gerade den Schlüssel aus der Tasche gezogen, als gegenüber ein Fenster geöffnet wurde. Sie sah Frederik Graber, hörte ein Maunzen. Der Mann klatschte ein paar Male in die Hände, zupfte Haare vom Ärmel und blickte direkt zu Lena. Er schien etwas zu murmeln und seine Augen starrten sie aus tiefen Höhlen an.
Du meine Güte, mein Gespenst aus Kindertagen schaut, als wolle es mich mit Blicken töten. Womöglich hat er mich doch bemerkt, als ich vor zwanzig Jahren ums Haus geschlichen bin.
Sie schluckte und fragte sich, ob alles in Ordnung mit ihm sei. Man könnte meinen, er springe gleich aus dem Fenster.
Ärger über sich selbst stieg in Lena auf. Ist doch vorbei, rügte sie sich; und jetzt drehst du dich zur Tür und steckst den verdammten Schlüssel ins Schloss. Sie öffnete und versuchte das Gefühl zu ignorieren, jemand richte eine doppelläufige Flinte auf ihren Rücken. Drinnen schaltete sie das Licht ein, wandte sich um und überredete sich zu einem höflichen Nicken, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
***
Kaum zu glauben, aber sie nickte ihm tatsächlich zu, bevor sie im Haus verschwand.
„Wenn du wüsstest, Ayla-Lena ...“, murmelte Frederik Graber.
"... dass wir verwandt miteinander sind." Am liebsten hätte er es über die Wiese gebrüllt; aber sein innerer Leutnant hieß ihn schweigen. Die Katze war unter der Hecke verschwunden, tauchte dahinter wieder auf und querte die Nachbarwiese.
"So ein Fettklops", knurrte er und erinnerte sich an einen Abend vor ein paar Jahren, wie er mit den Kameraden im Schutz einer Ruine gesessen war. Eine wie diese Graue hätten sie damals gut brauchen können. Fünf von ihren struppigen Verwandten hatten sie eingefangen, das Fell abgezogen, ausgenommen und auf Stöckchen über das Feuer gehalten. An denen war nicht viel Fleisch gewesen, aber