Sie starrten eine Weile schweigend vor sich hin. Sogar Gerhard blieb ruhig. Nur Lena wippte mit den Füßen an einer gerissenen Fliese und lauschte dem Knirschen, dachte an den Garten, das Haus und wieder fiel ihr diese Nachricht ein. Was hätte Semra gesagt, wenn sie gewusst hätte, dass Haus und Garten an wildfremde Leute verkauft würden. Womöglich hatten sie schon darüber gesprochen? Vielleicht waren das der letzte Mangold, die letzten Möhren, die sie in ihren Beeten ernten wollte, saß womöglich seit langer Zeit auf gepackten Koffern. So frisch sieht es hier nicht mehr aus. Es knirscht und knirscht, Zerfall, schleichend, im Verborgenen arbeitend. Irgendwann würde Erosion einsetzen und die Zerstörung wäre nicht mehr aufzuhalten. Die nächste Fliese wackelt schon, die daneben auch und bei den Nachbarn sieht es nicht besser aus.
Brummen schob sich in ihre Gedanken, schwoll an, entflocht sich zu vielstimmigem Knattern. Fast gleichzeitig legten sie die Köpfe in den Nacken; dann waren sie zu sehen - sechs, sieben dicke Transporthubschrauber. Dröhnen fräste durch die verschlafene Siedlung. Für einen Moment verdunkelten die grauen Leiber den Himmel. Macht zur Schau stellend schwebten sie in einem weiten 'V' über die Gärten hinweg Richtung Stadt, so tief, dass jeder die Öffnungen an den Metallbäuchen gut sehen konnte.
Lena blickte auf ihr Handgelenk, wo sich ein mattschwarzes breites Band anschmiegte. Man spürte es kaum, könnte es rund um die Uhr tragen, müsste es nicht ab und zu aufgeladen werden. Ein roter Punkt pulsierte und sie wusste, jeder wusste, dass mit den Bildaufnahmen fast zeitgleich die Daten von Fahrzeugen, ID-Bändern und Chips abgeglichen wurden. Manches Mal zögerten einzelne Begleitdrohnen wie Hunde, die eine Fährte verloren hatten und schnüffelnd suchten, bis die Duftspur wieder aufgenommen war. Bei diesem Anblick zweifelte selbst der bravste Bürger an seiner eigenen Unbescholtenheit.
Diesmal schien die Meute vor allem in Eile gewesen zu sein; keine Zeit für Katz- und Mausspiel.
Der rote Punkt erlosch und Lena spürte, wie die Anspannung in der Magengegend nachließ, ein schwarzer Klumpen, der allmählich zerfloss und nur noch einen schalen Nachgeschmack hinterließ. Der Umriss eines grünen Briefsymbols war noch zu sehen. Giftgrün hatte sie extra für den netten Herrn vom Amt für Studien- und Lebensgestaltung ausgesucht. Das war die dritte Nachricht von Hanno Herbst. Jetzt würde sie sich langsam bei ihm melden müssen.
"Scheint wieder Ärger zu geben", sagte sie und strich das Symbol weg.
"Ich hab von illegalen Demonstrationen munkeln hören und davon, dass wieder welche ihr Unwesen in den gesicherten Zonen treiben", murmelte Erhan.
"Mir würde das auch keinen Spaß machen, immer nur die erlaubte Route rauf und runter zu demonstrieren. Schließlich kann man in den Reichenzonen die Leute besser erschrecken, muss nur die ein oder andere Lücke entdecken“, sagte Gerhard.
„Das Schreckgespenst wird immer wieder aufgebauscht“, winkte Malte ab. „Dann kann die Tante vom Sicherheitsministerium noch tiefer in den Etat-Topf hineingreifen.“
„Schon spannend, wie sich Leute hineinschmuggeln können", sagte Erhan.
Wenn du wüsstest, wie einfach das ist, dachte Lena. Letzte Woche erst hatte sie einen netten Abend bei Carla verbracht. Die wohnte in einem Bungalow im Garten ihrer Eltern, und sie boykottierte mit Freuden deren Regel, dass alles, was nicht mindestens in einer S1-Zone registriert war, schon gar nichts in ihrer S2-Siedlung zu suchen hatte. Solche Freunde hatte eine gute Tochter nicht zu haben. Man stelle sich vor, irgendein Untermensch geht in ihrem Anwesen aus und ein, und das würde sich auch noch herumsprechen.
Ganz dicht wie ein Riesenrucksack hatte Lena hinter ihrer Freundin auf dem Gepäckträger des Fahrrads gesessen, konnte sehen, wie das Band an Carlas Handgelenk kurz aufschimmerte, als sie das Tor passierten. Ihr eigenes ruhte in einem abgeschirmten Beutel in ihrer Tasche. War die Grenze überwunden, krähte kein Hahn mehr nach irgendeinem Identifikationsmodul. In der supersicheren S3-Zone wäre das nicht so einfach gewesen. Dort war jeder ID-Chip, jedes Band erfasst und die Bewohner hatten Vereinbarungen unterschrieben, nach denen sie sich verpflichteten, diese Dinger im Band oder sonstwie immer bei sich zu führen. Und wehe es schlich einer ohne Berechtigung herum. Gleich einem Wabenmuster war das Gelände unterteilt, und die Sensoren konnten anhand der Bewegungsmuster unterscheiden, ob es sich um Maus oder Mensch handelte.
Und nun überlegte Carlas Vater, in die S3 zu ziehen. Man wäre ja seines Lebens nicht mehr sicher.
Das Klacken eines Schlosses zupfte an der Stille und Lena blickte über den Garten hinweg zu einer schmalen Parzelle, die zum Familiengrund gehörte. Nach Großvaters Tod vor mehr als zwanzig Jahren hatte Semra gesagt, der Garten sei ihr zu groß und vermietete das Stück samt kleinem Haus an Rudolf Graber. Außer einem Sohn, der alle paar Jahre zu Besuch kam, schien er keine Angehörigen zu haben.
Lena betrachtete das in der Nachmittagssonne leuchtende Rot der Backsteinwände, den niedrigen, mit Holzscheiten vollgestapelten Verschlag und seinem Teerpappedach, neben dem sich nun eine Tür öffnete.
Sie hatte schon einen Gruß für den Alten auf der Zunge; doch sie würgte ihn rasch wieder hinunter, als sie statt seiner den Sohn erkannte, und sie nickte nur höflich.
Der erstarrte für einen Moment, als er die kleine Gruppe bemerkte.
"Hallo", sagten die Männer neben Lena fast unisono und der junge Graber nickte und winkte ihnen zu. Aus dem Grau der Teerpappe löste sich eine Katze und sprang vom Verschlag herunter. Den fremden Mann nicht aus den Augen lassend umschlich sie ihn in einem großen Bogen und huschte an ihm vorbei ins Haus. Er nickte noch einmal und folgte der Grauen, zog hinter sich die Tür ins Schloss.
"Wer war das denn?", fragte Gerhard.
"Der Sohn unseres Nachbarn", antwortete Erhan.
"Ihr habt aber höfliche Nachbarn. Eine Art Beileidsbekundung wäre nicht schlecht gewesen."
"Warum war der alte Graber nicht bei der Beerdigung?", fragte Lena und drückte ihre Zigarette aus. "Semra und er haben sich doch so gut verstanden."
"Er ist wohl die Tage ins Krankenhaus gekommen. Semra wollte ihn noch besuchen." Erhan starrte auf das Haus. "Ich wusste gar nicht, dass der Sohn zu Besuch ist. Vielleicht weiß der nichts von ihrem Tod."
"Dann sollte einer Bescheid sagen."
"Ja ... bei Gelegenheit", murmelte der Vater.
"Die waren süß, die zwei Alten", sagte Lena "Wie sie zusammen auf der Bank gesessen sind."
"Ja", da musste sogar der Vater lächeln. "Selbstgebrannten haben sie probiert."
"Ist noch etwas davon da?", fragte Gerhard. Die Zwillinge und der Vater starrten ihn an. "Entschuldigung ... ich wollte nicht ..." Er räusperte sich und nickte. "Ich schau mal, was Julia macht." Sekunden später verschwand er im Haus.
"Er gibt sich ja schon Mühe", sagte Malte, als sich die Tür hinter Gerhard geschlossen hatte.
"Ein wenig", sagte Lena, dann nickte sie Richtung Wohnzimmer, wo Anna und Julia gerade lebhaft auf Ruth einredeten. Tante Marianne stand mit verschränkten Armen daneben und nickte ab und zu. "Tante Anna scheint die Beerdigung doch gut zu verkraften."
"Ihre Beziehung zu unsere Mutter war nicht sehr innig."
"Nicht so wie beim Vater, nicht wahr?"
"Nein, nicht so wie beim Vater, ihrem großen Vorbild. Dem Maß alles Dinge. Wahrscheinlich ist sie deshalb nicht verheiratet."
"An den Übervater kommt keiner ran, was?"
"Nein", sagte Erhan "und wie verbissen die beiden um seine Gunst gekämpft hatten ..."
Lena kannte diese alten Familiengeschichten, ihr war das Gezänk der alten Damen schon immer etwas seltsam erschienen. Bis ihr der Vater in einer Plauderstunde erzählt hatte, wie jede ihren persönlichen Aufstieg durchzog. Während Anna sich die Teilhabe an der Kanzlei Christian Radeke mit einem summa-cum-laude-Studium erarbeitet hatte, zog Marianne ihren Chef in den Hafen der Ehe. Und alle hatten sie genug Geld, um sich in eine S2-Zone einzukaufen.
Lena sah ihrem Vater zu, wie er seine Zigarette so gründlich im Aschenbecher