Sinnvoll zu betrachten. Geshe Kelsang Gyatso. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Geshe Kelsang Gyatso
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783752999372
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Meditationen daran gewöhnt ist, jedes Wesen mit zuneigungsvoller Liebe und Wärme zu betrachten, haben wir die vierte Stufe in der Entwicklung des Erleuchtungsgeistes realisiert.

      GROSSES MITGEFÜHL ENTWICKELN

      Großes Mitgefühl ist der Geist, der sich wünscht, daß alle Wesen frei von allem Leiden sind. Haben wir bereits zuneigungsvolle, herzerfreuende Liebe entwickelt und diese auf alle Lebewesen ausgeweitet, dann entsteht mühelos ein Geist von Großem Mitgefühl, wenn wir intensiv über die Leiden meditieren, die andere Lebewesen jetzt erfahren. Deshalb ist die Entwicklung von zuneigungsvoller Liebe die wichtigste Ursache für Großes Mitgefühl.

      Der Geist des Großen Mitgefühls umfaßt alle fühlenden Wesen ohne Ausnahme. Im Moment sind wir nicht fähig, unser eigenes Leiden zu ertragen, weil unsere Selbst-Wertschätzung so stark ist. Auch das Leiden unserer Eltern, unserer Familie und unserer Freunde ist für uns unerträglich, weil auch sie uns am Herzen liegen. Wenn wir aber sehen, daß unsere Feinde Schmerzen erleiden, dann freuen wir uns darüber, daß sie leiden müssen. Weshalb? Weil wir sie nicht im geringsten schätzen. Es ist dieser voreingenommene Geist, den wir zähmen und umwandeln müssen. Wir erreichen dies, indem wir uns mit den ersten vier Stufen vertraut machen, bis wir alle fühlenden Wesen spontan genauso betrachten wie unsere gütige Mutter. Wenn wir uns dann an ihre Leiden und Unzufriedenheit erinnern, wird leicht Großes Mitgefühl entstehen. Das Zeichen, daß wir Großes Mitgefühl entwickelt haben, besteht darin, daß in uns, begegnen wir einem früheren Feind, der spontane Wunsch entsteht, er möge frei von allen Leiden sein. Wie bereits erwähnt, ist es nicht möglich, dieses Große Mitgefühl für alle anderen Lebewesen zu entwickeln, bevor wir nicht zuneigungsvolle Liebe für sie erzeugt haben.

      Es gibt zwei Traditionen bezüglich der Entwicklung von zuneigungsvoller Liebe. In der Tradition der indischen Meister wie Chandragomin und Chandrakirti heißt es, daß zuneigungsvolle Liebe infolge der Vertiefung der Realisationen der oben erwähnten ersten drei Stufen entsteht. Der Tradition Shantidevas zufolge wird zuneigungsvolle Liebe in erster Linie durch die Methode des Austauschens vom Selbst mit anderen entwickelt. Diese Methode wird später erläutert.

      Wenn wir zuneigungsvolle, herzerfreuende Liebe für alle Wesen entwickeln und dann über die Leiden der Lebewesen meditieren, können wir, wie schon erwähnt, die Geisteshaltung des Großen Mitgefühls entwickeln - den Wunsch, daß sie von ihren Leiden erlöst sein mögen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit aber auf ihren Mangel an reinem Glück richten, dann entwickelt sich die zuneigungsvolle Liebe zu dem, was als wünschende Liebe bekannt ist. Das ist der von Herzen kommende Wunsch, daß kein fühlendes Wesen je vom Glück und seinen Ursachen getrennt sein möge.

      HÖHERE ABSICHT ENTWICKELN

      Mit der vollen Realisation des Großen Mitgefühls entsteht der Gedanke: «Ich selbst muß die Aufgabe übernehmen, alle Wesen von Leiden zu befreien. Das ist allein meine Aufgabe und Verantwortung.» Auf diese Weise persönliche Verantwortung für die Befreiung aller fühlenden Wesen zu übernehmen wird Höhere Absicht genannt. Das folgende Beispiel soll dies näher erläutern. Wenn ein Kind in einem Fluß zu ertrinken droht, werden Beobachter den innigen Wunsch haben, daß es gerettet wird. Wenn aber der Vater des Kindes die Gefahr sieht, dann wird er sich nicht mit dem bloßen Wunsch zufrieden geben, daß das Kind gerettet wird. Statt dessen wird in ihm die starke Absicht entstehen, zu handeln und sein Kind sogleich zu retten. Er wird denken: «Ich werde das Kind retten.» Die Geisteshaltung der Beobachter entspricht dem Großen Mitgefühl, während der Geist des Vaters der Höheren Absicht gleichkommt.

      Wer Höhere Absicht entwickelt hat, erkennt aber schnell, daß er trotz des starken Wunsches, alle fühlenden Wesen befreien zu wollen, nicht die Kraft besitzt, dieses Ziel zu erreichen. Wie ein Vater, der behindert ist und deshalb nicht auf den Hilferuf seines Sohnes reagieren kann, ist er nicht in der Lage, diesen altruistischen Wunsch zu erfüllen. Eine tiefe Realisation dieses Dilemmas - der Unfähigkeit, gemäß den eigenen Wünschen zu handeln - führt zum nun folgenden angestrebten Ergebnis dieser Meditation.

      DER ERLEUCHTUNGSGEIST - BODHICHITTA

      Durch Nachdenken und Untersuchung entdecken wir, daß nur ein vollkommenes Wesen - jemand, der aus dem Schlaf der Unwissenheit erwacht ist, ein voll erleuchteter Buddha - die volle Macht besitzt, andere von ihrem Leiden zu befreien. Diese Wahrheit wird uns klar werden, wenn wir über die Eigenschaften nachdenken, die ein wahrer Befreier haben muß. Ein solches Wesen müßte die folgenden vier Eigenschaften eines Erleuchteten besitzen:

      (1) Freiheit von allen Behinderungen zur Befreiung und Allwissenheit

      (2) Geschickte Mittel, um alle fühlenden Wesen aus ihren Leiden zu führen

      (3) Gleiches Mitgefühl für alle

      (4) Vollständige Unvoreingenommenheit und einzig zum Wohl anderer Lebewesen arbeitend

      In dieser Welt finden wir kein einziges gewöhnliches Wesen, das solche Qualitäten aufweist. Jedes Wesen, das diese vier Eigenschaften besitzt, bezeichnen Buddhisten mit dem Titel «Buddha». In der Vergangenheit haben viele Menschen in östlichen Ländern diesen Titel erworben, indem sie durch Meditation über den Mahayana-Pfad erhabene Qualitäten entwickelten. Es ist meine Hoffnung, daß in der heutigen Zeit auch einige Menschen des Westens diese kostbaren Qualitäten entwickeln und ebenso die Buddhaschaft erlangen.

      Zum Schluß: Wir haben das beabsichtigte Resultat dieser Meditation erreicht, wenn wir die sechste Realisation, die Höhere Absicht, entwickelt und anschließend auch erkannt haben, daß nur ein Buddha mit den obengenannten vier Qualitäten die volle Macht besitzt, diesen reinen Wunsch zu erfüllen. Es entsteht dann der anhaltende Wunsch im eigenen Geist, die volle Erleuchtung der Buddhaschaft anzustreben, um allen fühlenden Mutterwesen von Nutzen zu sein und sie von ihren Leiden zu befreien. Das ist der Erleuchtungsgeist oder Bodhichitta, und alle, die ihn entwickeln, werden Bodhisattvas genannt.

      Shantideva erklärte im letzten Vers, daß es viele Formen von Bodhichitta gibt, die aber alle in den folgenden zwei Aspekten enthalten sind: im anstrebenden und im ausübenden Geist. [16] Diese beiden Aspekte können mit dem Wunsch, irgendwo hinzugehen, und dem eigentlichen Gehen verglichen werden. Zuerst entsteht der Geist, der danach strebt oder sich wünscht, an ein bestimmtes Reiseziel zu gelangen, und dieser Wunsch bleibt auch während der Reise bestehen. Auf ähnliche Weise will der anstrebende Bodhichitta die Erleuchtung zum Wohl aller fühlenden Wesen erlangen und diese Geisteshaltung bleibt bestehen, bis das Ziel erreicht ist. Der ausübende Erleuchtungsgeist beginnt mit dem Empfangen der Bodhisattva-Gelübde. Von diesem Zeitpunkt an praktiziert man tatsächlich die Übungen, die zur Erleuchtung führen: die Sechs Vollkommenheiten und andere tugendhafte Handlungen.

      Die zwei Aspekte des Erleuchtungsgeistes werden durch das Befolgen der entsprechenden Grundsätze und Gelübde im eigenen Geist stabilisiert. Zuerst verpflichten wir uns in der Gegenwart eines Lehrers oder der visualisierten Versammlung der Buddhas dem anstrebenden Erleuchtungsgeist. Zu diesem Zeitpunkt versprechen wir, diesen Geist niemals wieder aufzugeben, sondern ihn bis zur Erlangung der Erleuchtung festzuhalten. Dann versprechen wir, die folgenden acht Grundsätze einzuhalten, damit dieser anstrebende Geist in diesem und allen zukünftigen Leben nicht degeneriert. Für dieses Leben versprechen wir:

      (1) Uns immer wieder an den Nutzen von Bodhichitta zu erinnern

      (2) Bodhichitta dreimal während des Tages und dreimal während der Nacht zu erzeugen

      (3) Nie die Absicht aufzugeben, fühlenden Wesen zu helfen

      (4) Eine große Menge an Verdiensten und Weisheit zu erwerben

      Die vier Grundsätze, die das Degenerieren des anstrebenden Erleuchtungsgeistes in zukünftigen Leben verhindern, sind:

      (5) Unseren Lehrer, Abt oder Präzeptor nicht zu täuschen

      (6) Andere nicht von tugendhaften Handlungen abzubringen, sei es dadurch, daß wir uns nicht an ihren tugendhaften Handlungen erfreuen, oder dadurch, daß wir bewirken, daß sie ihre schon ausgeführten tugendhaften Handlungen bereuen

      (7)