Bis Utopia. Marlon Thorjussen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marlon Thorjussen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761620
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der Innenstadt, war schlecht rasiert und hatte einiges an Bargeld in den Taschen. Er versuchte auch mehrmals vergeblich, sich eine teure – aber bloß nicht zu teure - Armbanduhr auszusuchen. Es scheiterte maßgeblich daran, dass er sich fragte, warum irgendwer (und irgendwer besaß in seiner Vorstellung immer ein Mobiltelefon) eine solche benötigte. Ein Blick auf eben jenes Telefon genügte schließlich. Leere Akkus überzeugten ihn gedanklich auch nicht so recht. Schließlich waren Uhren doch immer und überall vorhanden.

      Dann fiel ihm eine Uhr ein, die am Bahnhofsvorplatz stand. Sie stand immer auf Punkt zwölf. Und das seit Jahren. Vielleicht gab es auch Orte, an denen alle Uhren still standen und auf diese Orte wollte er dann doch vorbereitet sein.

      Ein leerer Handyakku und ein paar tote Uhren in Gedanken zwangen ihn schließlich dazu, sich doch für eine Armbanduhr zu entscheiden. Es wurde dann ein schmuckes Modell: Oris Classic Date.

      „Schweizer Produkt, ideal für den dezenten Herrn“, erklärte der junge Verkäufer. Sein Gesichtsausdruck machte offensichtlich, dass er sich eine Provision versprach. „Goldbeschichtung auf Edelstahl, mit Datumsanzeige. Schauen Sie mal!“

      Peer wurde die Uhr in die Hand gedrückt. Er verstand davon nichts, aber nickte wissend. Er befand sie für funktional und wenig aufdringlich.

      „Kalbslederband. Weich, gut für die Haut. Arbeiten Sie körperlich?“, wollte der Verkäufer wissen.

      „Nein. Aber ich kann sie auch beim Sport tragen?“, fragte Peer. Nicht, dass er je wirklich Sport trieb, aber durch eine Gegenfrage wurde seine Antwort länger und damit war er nicht ganz so verloren im Gespräch.

      „Natürlich! Diese Uhr ist ein sicherer Begleiter für alle Lebenslagen“, bejahte der Verkäufer und zwinkerte Peer zu. Wer diesem Kunden in seinem alten Mantel und mit ungepflegten Gesicht zuzwinkerte, verkaufte auch Seniorinnen Lebensversicherungen.

      „Gibt es die auch mit schwarzem Ziffernblatt?“, wollte der Umgarnte noch wissen. Der junge Mann reichte ihm ein anderes Exemplar. Dieses gefiel Peer dann gut genug, um es mitzunehmen. Er zahlte bar und ließ sich die Uhr um sein Handgelenk legen. Peer fühlte sich gleich ein Stück wertvoller.

      Mit der vom Ärmel verborgenen Uhr und seinen Einkäufen kam er dann zurück in seine Wohnung. In selbiger fand er eigentlich alles, was er wollte. Bad, Küche und Schlafzimmer waren vorhanden und waren genauso so selbstverständlich und gemütlich wie immer.

      Nach kurzer Inspektion seiner Wohnung setzte er sich vor den Fernseher, öffnete sich ein Bier und verbrachte den Abend damit, sich berieseln zu lassen. Niemand rief an und fragte nach ihm. Er erhielt keine SMS, keine Post, keinen Besuch. Es war eben ein gewöhnlicher zweiter April für den Rest der Welt.

      Von Taxifahrern und Dates – 3. April, ca. 11:00

      Am nächsten Morgen warf ein Postbote Peer eine Setcard in den Briefkasten. Als Peer diese gegen elf nach oben holte, war er überrascht und freudig erregt zugleich. Denn darauf war ein Portrait von Brokat. Das Bild hatte eine sehr hohe Auflösung und man konnte die sanften Grübchen erahnen, die sie hatte. Ihre grauen Augen glänzten. Ihr Gesichtsausdruck wies sie allerdings nicht als Escortdame aus, sondern eher als Managerin oder vielleicht auch als Vorsitzende eines gemeinnützigen Vereins. Die Frau hatte einfach eine gewisse Klasse, an die Peer nun erinnert wurde. Auf der Karte standen in weißen Lettern ihre Emailadresse und sogar ihre Handynummer. Dazu die bekannten Daten der Agentur und ein Hinweis, man möge sich doch bitte nicht vor halb elf melden. Wahrscheinlich brauchte sie so lang für die Auswahl ihrer Garderobe und für das Herrichten ihres Körpers.

      Peer ließ die Karte wieder in den Umschlag gleiten und verstaute das Ganze in der Kommode im Flur. Dort war es schließlich griffbereit. Er nahm sich fest vor, sie anzurufen.

      Kekse und Kaffee bildeten heute sein Frühstück und er setzte sich wieder vor den Fernseher. Ab und an ging er zum Fenster und suchte auf der Straße nach den beiden Rotschöpfen.

      Am frühen Nachmittag duschte er und rasierte sich. Dabei fiel ihm abermals auf, dass zwei Tage alte Bartstoppeln sich müheloser rasieren ließen als einen Tag alte Bartstoppeln.

      Online überprüfte er dann sein Konto. Es war auch so schon ein kleines Sümmchen darauf, aber bald sollte es mehr sein. Dann griff er sich seine neue Uhr und legte sie sich an. Sie fühlte sich tatsächlich noch immer neu und geschmeidig an und zeigte die Uhrzeit völlig korrekt an.

      „Hm“, machte Peer. Die Armbanduhr tickte nur stumm zur Antwort. Die Zeit lief so langsam oder schnell wie immer. Analoge Zeiger rutschten in festgelegten Takten von Strichlein zu Strichlein. Unterdessen blinkte der Doppelpunkt der Digitalanzeige von Peers Wecker im Sekundentakt und verrichtete die Arbeit mindestens genauso zuverlässig.

      Peer wählte Brokats Nummer, aber laut Ansage war die Teilnehmerin nicht zu erreichen. Dann rief Peer noch einmal in der Agentur an und hoffte, dass man dort wusste, wo Brokat steckte.

      „Hallo?“ Es war dieselbe Frau wie beim letzten Mal.

      „Guten Tag, ist Brokat bei Ihnen im Hause?“, fragte Peer sofort.

      „Wer will das wissen?“, erkundigte sich die Frau schroff. Offensichtlich hatte Peer sie auf dem falschen Fuß erwischt.

      „Mein Name ist Peer. Peer Flint. Wir haben vor ein paar Tagen schon mal miteinander gesprochen. Vorgestern.“

      „Hmmm...“ Die Frau überlegte langatmig. Gerade so, als müsste man für das Gespräch auch schon pro Minute bezahlen. „Ja, ich habe Ihnen Brokat kommen lassen. Nicht wahr? Reizendes Wesen. Ganz reizend. Rufen Sie an, um sich zu bedanken? Ich richte es aus.“

      „Nein, ich würde sie gern sprechen, wenn es geht“, beharrte Peer.

       „Ach, Brokat ist gerade sehr beschäftigt. Aber unter uns beiden: Für den Klienten, den sie besucht, muss sie nicht so viel Zeit einplanen. Sie wird sicherlich in maximal zwei Stunden wieder hier sein“, gurrte es rauchig.

      „Ich rufe dann noch einmal an, ja?“

      „Sicher, gern. Besser aber in drei Stunden. Brokat wird sicher noch einmal duschen, nachdem sie wieder da ist. Bis später!“, verabschiedete sich die Frau und legte auf.

      Peer blieb noch eine Weile mit dem Telefon am Ohr sitzen. Sein Verlangen nach Brokat war nicht durch seinen Penis bestimmt. Es war einfach ein Ding, das zu tun er sich vorgenommen hatte.

      Dann recherchierte Peer nach verkäuflichen Freizeitbooten im Internet. Boote hatten ihn schon immer interessiert, wenngleich er leider nur selten auf einem gewesen war. Nach ein paar missglückten Versuchen landete Peer einen Treffer und fand eine Anzeige. Das Boot wirkte funktional und zuverlässig auf den ersten Blick. Der Lack des Rumpfes löste sich schon, aber an Deck des sechzehn Meter langen Kahns war Platz für mindestens einen bequemen Liegestuhl und eine Kühlbox. Es war mit Funktechnik ausgestattet und hatte einen modernen Außenbordmotor. Einen Anker und eine Winde konnte das alte Ding auch vorweisen. Der Mast war allerdings abmontiert worden. Und immerhin war das Boot auch schon über siebzig Jahre alt! Man hatte es so umgebaut, dass man es auch zu zweit als Hausboot nutzen konnte. Spätestens jetzt war Peer tatsächlich verliebt.

       „Ungetauft“, ließ sich Peer den Namen auf der Zunge zergehen. Es gehörte wohl irgendeinem Scherzbold. Laut Profil war es ein deutscher Auswanderer, der nun auf Mallorca lebte. Das Boot allerdings, so hieß es, läge aber in Vanuatu – der günstigeren Liegegebühren wegen und genutzt wurde es eh nicht – aber könne „jederzeit vor Ort besichtigt werden. Dafür war es so günstig, dass Peer das Stück Museum sogar mit seinem Ersparten hätte kaufen können.

      „Toll“, kommentierte er die ungünstige Lage seines Traumschiffes und flugs löste sich seine anfängliche Euphorie in Ernüchterung auf. Er hätte genau diesen einen Kahn gern besessen. Andererseits: Wo wollte er ihn überhaupt liegen lassen? Das Meer war weit weg und der Kanal in der Stadt kaum fünf Meter breit.

      Um fünf Uhr Nachmittags, Peers Magen knurrte bereits, rief er wieder bei der Agentur an. Flugs wurde ihm Brokat