Bis Utopia. Marlon Thorjussen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marlon Thorjussen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761620
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sollte. Daran gewöhnte man sich.

      „Du bist ruhig, du bist harmlos, du magst Ordnung. Die Haustür unten quietscht, deine Wohnungstür ist aber geschmeidig. Du schenkst Wein sogar perfekt ein, wenn du getrunken hast und ich habe noch nie ein so sauber gemachtes Bett gesehen. Und du hältst beim Ficken einen perfekten Viervierteltakt.“

      „Super“, kam es nur geschlagen zurück.

      „Danke für den Wein. Das Geld nehme ich mir, ja? Habe es schon gesehen. Und ich sag der Agentur, sie sollen dir meine Karte schicken. Da steht alles drauf: Telefonnummer, Maßen, Bild von mir. Du bist dann ein V.I.P.“, verabschiedete sich Brokat und zog sich schnell wieder an. Keine Dusche, kein letzter Kuss, gar nichts. Nur das Davonfliegen einer neuen Erfahrung, die auch eine neue Erfahrung gemacht hatte.

      Peer war am Abend des ersten Aprils immerhin schon 1220 Euro losgeworden (Brokat hatte ihm „nur“ 1200 Euro in Rechnung gestellt, was eigentlich noch immer zu viel dafür war, dass sie den Abend nicht mit ihm ausklingen ließ) und legte sich kurz nach Mitternacht ins Bett. Er versuchte zu beten, weil er sich davon etwas versprach, aber es mochte ihm nicht so recht gelingen. Dann versuchte er, zu verstehen, warum er sich nicht anders fühlte als sonst und schob es einfach darauf, dass er angetrunken war und deshalb nicht genug Feingespür für sich selbst haben konnte.

      Immerhin hatte er gut getrunken und eine schöne Frau in seinem Bett gehabt. Als durchschnittlicher Mann war er damit zufrieden, als Mensch war er schlichtweg einsam. Aber auch die Einsamkeit ertrug er als fühlendes Wesen ganz gut. Er sagte sich, dass neue Tage neues Glück brächten – daran glaubte er tatsächlich.

      Hätte das Gesamte der Existenz einen Plan für die Ereignisse gehabt, dann wäre die Pointe eventuell „April, April!“ gewesen. Die Existenz hätte Peer angerufen, oder ihm eine Gummischlange auf die Schulter geklatscht. Aber es handelte sich eben nicht um einen großen kosmischen Scherz.

      Aber da es Peer wie allen Menschen ging, war da nichts, was ihn ausgeklügelterweise in diese Situation gebracht hatte. Niemand hatte die Welt so hergerichtet, dass genau er an genau diesem Tage diese Dinge erlebte. Sie waren einfach passiert und damit hatte sich die Sache für die Götter auch schon erledigt.

      Das Einmischen durch irgendeine höhere Macht war zu diesem Zeitpunkt aber die leichter zu verstehende Erklärung für Peer Flint.

      Von Briefzustellungswegen und toten Hunden – 2. April, ca. 08:00

      Peer erwachte gegen acht Uhr. Verkatert war er nicht. Er stellte sofort fest, dass er es nicht mehr pünktlich zur Arbeit schaffen würde. Darum entschied er, es einfach ganz aufzugeben, sich in sein Büro zu setzen und die nächste Lieferung Kugelschreiberkappen aus China zu ordern. Das war ohnehin eine zutiefst langweilige Aufgabe, die man in ein ein paar Worten zusammen fassen konnte: Bestandsüberprüfung, Bedarfserfassung, Lieferantenauswahl, Stückzahlpreisdrückereiverhandlung, Email an den Logistikmenschen.

      In diesen Dimensionen hatte sich seine berufliche Laufbahn bisher bewegt. Allerdings betrat er diese Dimensionen bisher immer pünktlich um halb neun, was ihn eben nun dazu veranlasste, einfach gar nicht zu erscheinen. Pünktlichkeit war ihm eine dieser Tugenden, die er einfach beherrschte. Nicht, dass er sie von anderen erwartet hätte – es war nur einfach so, dass dieser Langweiler im billigen Anzug stolz darauf war, pünktlich in seinem Büro über dem Verkaufsraum zu sitzen.

      Das Zimmer mit der Nummer 16 war allein seines. Sein Name stand darauf, er bediente einen uralten Rechner und telefonierte. Und ab und an tauschte er sich mit den Verkäufern aus und unterhielt seinen Vorgesetzten über die aktuellen Entwicklungen des Markerabsatzes. Zu Beginn eines jeden neues Schuljahres waren natürlich immer alle ganz aus dem Häuschen, denn der Trend wechselte ständig. In einem Jahr wurden halt mal klassische Füllfederhalter (ohne Tinte, weil kindergerecht) und Linienblöcke genutzt und in einem anderen wurden dann schon einmal dünne Filzstifte als Schreibmittel der nächsten Generation angesehen. Der Trend ergab sich meist irgendwie. Jede Generation verwendete einfach unzählige verschiedene Schreibutensilien. Und das war Peer Flints Aufgabenfeld, das ihm in der Tat wenig Befriedigung verschaffte. Eher war es so, dass alle Aspekte seiner Pflichten ihn auslaugten, was sein Unterbewusstsein stets damit kompensierte, dass er niemals ernsthaft über seine Arbeit nachdachte. Und dennoch verpasste er seinen Leidensantritt nie um auch nur eine Minute. Nur heute, am zweiten April, änderte sich dies endlich.

      „Heute mache ich nichts!“, entschied er nämlich. Natürlich spürte er kurz sein schlechtes Gewissen aufsteigen, beließ es aber dann damit, seinem Vorgesetzten auf den Anrufbeantworter zu sprechen und sich für sein Fehlen zu entschuldigen. Er würde spätestens nächste Woche wieder erscheinen und zur Not auch eine Krankschreibung besorgen. Peer wusste im Moment des Bescheidgebens, dass er wohl nie wieder diesen Markt betreten würde. Schließlich gab es die Artikel, wenn auch in begrenzter Auswahl, günstiger bei der Konkurrenz.

      Peer hatte nun noch diesen und fünf weitere Tage Zeit, bis er zu dieser Gentechnikorganisation gebracht worden würde. Er suchte in der Küche eine Kopie des Vertrages des Vortages, wurde aber nicht fündig. Stattdessen las er dann das Schildchen an einem Teebeutel.

      „Gutblatt Kräutertee erfrischt ihre Sinne am Morgen. Das sanfte Aroma ausgewählter Kräuter trifft auf den distinkten Hauch von Limette und Bergamotte“, las es sich dort.

      „Hm“, machte Peer. Er nahm sich vor, in seiner neuen freien Zeit, die am zweiten April begann, mehr Schildchen zu lesen. Nicht, dass es ihm irgendetwas gesagt hätte, womit er etwas anzufangen gewusst hätte. Aber dieser Teebeutel war ihm dadurch einfach viel präsenter als all das Geld, das ihn noch erwartete. Dass Bergamotte sich eigentlich eher für Earl Grey gehörte, kam ihm dabei nicht in den Sinn.

       Den Tee schlürfend, setzte er sich ins Wohnzimmer. Als er genug davon hatte, distinkte Ahnung von Limette zu erschmecken und die Suche nach der Bergamotte gedanklich mit dem Wörtchen „interessant“ abschloss, schaltete er den Fernseher ein.

      „... bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Der Fahrer des schwarzen Minitransporters ist weiterhin nicht identifiziert. Die Kennzeichen stellten sich nach Prüfung als Fälschung heraus. Hinweise werden erbeten. Hierfür können Sie sich an die örtliche Polizei unter der Nummer ...“, kam es von der Sprecherin der lokalen Nachrichten. Sie ratterte den Text vom Teleprompter vollkommen unbewegt herunter. Ihre hölzerne Mimik vermengte sich mit dem perfekten Pferdeschwanz, den sie trug.

      Insgesamt starben in dieser Nachrichtensendung achtzehn Menschen: Einer verbrannte, sechs starben bei einem rassistisch motivierten Angriff auf ein Familienrestaurant in den USA. Ein berühmter Politiker starb in hohem Alter. Ein Helikopter stürzte in Indien auf einen Marktplatz – acht Tote und mehr als zwanzig Verletzte waren die Folge. Das Bild zeigte aber nur einen ramponierten Helikopter und ein unidentifizierbares Durcheinander am Boden. Verschiedene Decken, Tische und Waren waren durcheinander gewirbelt worden. In Saudi-Arabien wurde eine Menschenrechtler zu Tode gepeitscht. In China wurde die ausgeweidete Leiche eines Obdachlosen gefunden; er war wohl Opfer des Organhandels geworden.

      All das presste die Frau in jeweils dreißig bis vierzig Sekunden Bericht.

      „Beim Absturz eines Helikopters in der Nähe der Stadt Jabalpur im Bundesstaat Madhya Pradesh kamen heute morgen acht Menschen uns Leben. Mehr als zwanzig wurden schwer verletzt. Die Ursache des Absturzes, bei dem der Pilot ebenfalls ums Leben kam, ist noch ungeklärt. Der Markt ist geräumt worden und aus der ganzen Region kommen Menschen, um ihr Mitgefühl zu zeigen“, sagte die Frau, als die Bilder Marktes gezeigt wurden. Um den Helikopter herum standen Schaulustige. Keiner räumte den Markt auf.

      Bei dem chinesischen Obdachlosen hingegen dachte Peer an sein baldiges Schicksal als Eisblock. Aber der Gedanke war ihm jetzt zu unwirklich, um Angst davor zu haben. Er hatte eher Angst davor, dass Danach nicht mehr kontrollieren zu können.

      Peer hoffte aber inständig, dass er nicht mit einem Helikopter reisen müsste, wenn die Klone wieder kämen.

      Er setzte sich nach dem Wetterbericht (wechselhaft bei zwölf Grad) an den Küchentisch und schrieb seine Kündigung von Hand. Der Impuls war