Franca wischte sich ein paar Tränen aus den Augen.
„Der junge Mann, den ich so angestarrt hatte, war zu meinem Retter geworden. Er kümmerte sich um uns und gemeinsam bemühten wir uns um deinen Großvater, der zusammengekrümmt und blutüberströmt im Staub des Platzes lag. Als der hinzukommende Conte de Cardinale sah, was eines seiner Tiere angerichtet hatte, befahl er seinem Hirten Francesco, er solle sich weiter um uns kümmern und wenn nötig den Dottore holen. Aber wirklich nur, wenn es unbedingt nötig sei, dieser solle ihm die Rechnung dann zusenden.
Francesco – dein Vater - folgte damals gerne dem Befehl seines Patrone. Leider konnten wir meinem Vater nicht mehr helfen. Er starb noch auf der Piazza in meinen Armen, inmitten einer gaffenden Menschenmenge. Drei Tage später haben wir ihn beerdigt“, der Blick von Tommasos Mutter schweifte in die Ferne, sie dachte an die damaligen Ereignisse. „Der Conte erteilte Francesco sein Einverständnis, mich mit auf die Fattoria Ladro zu bringen.
Ein letztes Mal bin ich auf den Berg gestiegen. Gemeinsam mit dem jungen Ziegenhirten. Wir haben meine paar Habseligkeiten zusammengepackt und dazu vier Kisten mit Bienenvölkern mitgenommen. Diese sind dann der Grundstock für die erfolgreiche Imkerei auf der Fattoria geworden. Wir habenen alles den Berg hinuntergeschleppt und auf den Carretto geladen, auf dem Francesco vorher einige Ziegen zum Markt gefahren hatte. Ja – so war das damals.
Kurze Zeit später erhielten wir vom Patrone die Erlaubnis zu heiraten. Jetzt sind wir schon zwanzig Jahre verheiratet und haben euch elf Kinder.“
Tommaso hörte seiner Mutter gerne zu, wenn sie von früher erzählte, auch wenn er die Geschichten schon alle kannte.
„Tommaso! Tommaso, wo steckst du denn wieder.“
Der Junge schreckte hoch, war er doch ein bisschen eingedöst, als sein Bruder Joseph nach ihm rief.
„Hier, was ist denn“, hastig stand er auf.
„Es ist spät, wir müssen die Ziegen eintreiben!“
Spät abends nach dem Melken kam Sebastiano fröhlich vor sich hin pfeifend von der Käserei. Seinen Karren zog ein Esel, dessen rechtes Ohr kerzengerade stand und dessen anderes schlaff herunterhing - lustig anzusehen.
Der Käser holte die Milch ab. Schon zwei Mal durfte Tommaso mit zurück in die Käserei fahren. Der Weg war nicht weit, aber sehr steil und führte in einem großen Bogen um den Felsen herum den Berg hinauf. Durch ein großes Tor kam man links in die Fattoria, im hintersten Eck lag die kleine Käserei des Conte. Aus der Milch der Ziegen, Schafe und Kühe, die zu dem großen Gut gehörten, wurden die verschiedensten Käsesorten hergestellt.
Bei den Städtern war der geräucherte Ricotta, ein Käse aus Ziegen- oder Schafsmilch, gewürzt mit wilden Kräutern, am Beliebtesten. Die Erzeugnisse der Fattoria wurden zweimal die Woche auf dem Markt in Siracusa feilgeboten. Die beiden Wagen fuhren bereits abends los, um rechtzeitig am Morgen an ihrem Marktstand zu sein. Dabei kutschierten die Fuhrknechte und die Begleiter, von denen einige oft mit Lampen vorauslaufen mussten, äußerst vorsichtig. Erst in Stadtnähe wurden die Wege besser.
Tommaso bekam jedes Mal große Augen, am liebsten wäre er überall herumgesprungen und hätte sich alles angeschaut. Aber Sebastiano schärfte dem Jungen eindringlich ein, bei ihm zu bleiben und nicht in der Hofanlage herumzulaufen, auf keinen Fall in die Nähe des Herrenhauses, sonst bekomme er, der Käser, Schwierigkeiten.
Letzte Woche durfte er wieder einmal mit. Sie waren gerade durchs Tor gefahren und hielten vor der Käserei, um die Milch abzuladen, als eine große, geschlossene Kutsche und mehrere hoch beladene Pferdewagen in den Hof rumpelten. Sofort eilten einige Bedienstete herbei und alle, die sich im Hof befanden, verbeugten sich vor dem Herrn, der aus der Kutsche stieg.
Bevor er sich versah, hatte Sebastiano Tommasos Kopf nach unten gedrückt: „Verbeug dich gefälligst vor dem Patrone“, zischte er ihm zu.
„Aha, Sebastiano, hast deinen Jüngsten nicht richtig erzogen“, meinte der Conte, ein stattlicher mittelgroßer Mann mit leichtem Bauchansatz, leutselig zu ihm.
„Nein Euer Gnaden, das ist Tommaso, der Sohn des Ziegenhirten, er hilft mir nur die Milch abzuladen“, antwortete Sebastiano untertänigst mit einer noch tieferen Verbeugung, wobei er den Jungen wiederrum mit nach unten zog.
„Soso“, mit seinen blitzenden dunklen Augen betrachtete der Conte den Jungen näher, dann entfernte er sich mit wehenden Rockschößen in den Palazzo.
Am nächsten Morgen, Tommasos Mutter wusch gerade die Milchtöpfe am Bach aus, kam ein Reiter den Weg heruntergaloppiert. Als er vor den Höhlen sein Pferd zügelte, rannte sie herbei und verbeugte sich vor ihrem Patrone mit einem missglückten Knicks.
„Nur keine Verrenkungen. Frau? Frau …?“
War dies das hübsche Mädchen, das er sich immer wieder hatte kommen lassen? Früher war es Brauch gewesen, dass dem Patrone die Brautnacht gehörte. Sein Vater hatte ihm damals dieses Recht abgetreten, damit er seine Erfahrung sammeln konnte, wie er lachend meinte. Damit hatte er seinen Sohn zu der jungen hübschen Braut ins Bett geschoben. Anfangs hatten sie Probleme gehabt, denn für beide war es das erste Mal gewesen. Aber als sie dann gegenseitig ihre Körper erkundeten, fanden sie aneinander Gefallen. Immer wieder befahl er sie später in sein Bett. Er war sich sicher, dass zumindest die älteste Tochter und der jüngste Sohn von ihm waren, da diese beiden völlig anders ausschauten als die anderen Kinder. Aber das war schon lange her, über zehn Jahre. Seit er seine junge Frau heimgeführt hatte, eine Adelige aus dem Hause einer reichen Familie aus Catania mit normannischen Wurzeln, waren die Zeiten der Bettgespielinnen vorbei. Und nun war diese einstige Schönheit alt und verbraucht von der Last des Alltages und den vielen Kindern.
„Casserino - Patrone“, half ihm Franca verlegen weiter.
„Hm, Euer Sohn war gestern mit dem Käser im Hof …“, fing der Mann an.
„Ich werde ihn gleich zur Rechenschaft …“, setzte Tommasos Mutter zur Erwiderung an.
„Nein, nein. Er hat nichts angestellt. Die Contessa und ich haben überlegt, dass Euer Sohn in etwa das gleiche Alter wie unser Jüngster haben dürfte. Der Junge, wie heißt er nochmal?“
„Tommaso, Patrone!“
„Tommaso, ach ja - unser Christiano braucht jemanden zum Spielen und zur Unterhaltung, wenn wir hier sind. Schickt uns den Tommaso jeden Morgen hinauf ins Schloss. Und jetzt soll er gleich mitkommen“, befahl der Conte.
„Tommaso!“, rief Frau Casserino nach hinten in die Höhlen.
Sofort erschien der Junge.
„Hast schon wieder einmal gelauscht“, mit einer Kopfnuss trieb ihn die Mutter vorwärts, „dann hast du ja gehört, was der Patrone gesagt hat. - Verbeug dich gefälligst!“ Schon wieder hagelte es Kopfnüsse.
„Ja!“, stotterte Tommaso ängstlich und verbeugte sich.
Der Herr ritt los und der Junge lief hinterher. Zum Glück ging es steil nach oben und der felsige Untergrund des Weges war so glatt, sodass das Pferd immer wieder ausrutschte und der Reiter es zügeln musste.
3 Freia 1733
Es war spät nachmittags, die Sonne stand schon sehr tief und alles tat ihr weh. An ihren nackten Füßen, Armen und Händen hatten die scharfen Schilfstoppeln ihre blutigen Spuren hinterlassen. Die fünfzehnjährige Freia half wie auch ihre fünf jüngeren Geschwister den Eltern. Jeden Tag, vom späten Herbst nach den ersten Nachtfrösten bis zum zeitigen Frühjahr, bei jedem Wetter schnitten sie das Reet. Trockene Kälte