Wildgänse. Thomas Spyra. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Spyra
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738072099
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Preis einen stabilen Planwagen und zwei starke Kaltblüter.

      „Gebt den Pferden Bier, wenn Ihr einmal eine Höchstleistung von ihnen wollt, sie haben zu einer Brauerei gehört und sind das Biersaufen gewöhnt“, riet der Verkäufer Christoph lachend.

      Bereits zwei Tage später fuhren sie in Richtung Norden, naja, vielleicht etwas zu weit nach Nordosten.

      Am Tag bevor sie losfahren wollten, war ein großer Handelszug aus Nürnberg angekommen. Es hatten nun alle beschlossen, erst gemeinsam nach deren Ziel Halle und dann weiter nach Leipzig zu reisen. Vielleicht ergab sich unterwegs noch eine Gelegenheit für Christoph und Anna Maria, sich einer anderen Reisegruppe anzuschließen, deren Weg besser für ihre geplante Richtung passte. Nun waren sie ein großer Treck mit über 40 Wagen und fast 80 Söldnern. So waren sie sicher, von keinem Gesindel überfallen zu werden. Allerdings ging es etwas langsamer, es dauerte seine Zeit, bis sich dieser Wagenzug jedes Mal wieder in Bewegung setzte.

      Nach neun Tagen erreichten sie Halle, eine schmucke kleine Stadt mit einer sehr alten Universität. Gut drei Wochen waren nun seit dem Aufbruch in Windsheim vergangen. Je länger sie darüber nachdachten, umsomehr waren die beiden Eheleute überzeugt, dass Gott trotz allen Unglücks seine schützende Hand über sie gehalten hatte und sie glimpflich davongekommen waren.

      Christoph entschloss sich, erst einmal eine größere Rast einzulegen und die Reise bei einer günstigen Gelegenheit nach Bremen fortzusetzen. Sie mieteten sich in einem kleinen, sauberen Gasthaus nahe der Universität ein - sehr preiswert, darum verkehrten hier mehr Studenten als Reisende. Mit dem Wirtsknecht vom Gasthaus Zum Wilden Mann, einem der führenden Häuser, in dem die durchreisenden Handelszüge haltmachten, hatte er vereinbart, dass dieser ihm Nachricht gab, sobald eine geeignete Reisegesellschaft ankäme.

      Am zweiten Abend, die Bartels saßen gerade beim Abendbrot in einer Ecke des Wirtshauses, fragte sie der Wirt, nachdem er jedem einen großen Humpen Bier serviert hatte: „Wo seid Ihr eigentlich her? Ihr sprecht schon etwas anders als wir.“

      „Wir kommen aus Windsheim, einer Reichsstadt zwischen Rothenburg und Nürnberg. Etwa zehn Tagesreisen südlich von hier, im Frankenland“, antwortete Christoph dem freundlichen Mann.

      „Windsheim? Das habe ich doch schon mal gehört - Else!“, schrie er nach hinten, „woher kennen wir Windsheim?“

      „Na einer der Studenten, der Medikus, der Große! Wie hieß er doch gleich nochmal? Der war schon einige Zeit fertig mit dem Studium, hatte nur noch keine rechte Lust zum Arbeiten“, erklärte seine Frau.

      „Ach, du meinst den Stellers Georg, oder?“

      „Ja, genau den!“

      „Der ist doch im letzten Jahr nach St. Petersburg aufgebrochen, an die Akademie des Zaren.“

      „Meint Ihr den Georg Wilhelm Steller, einen Studenten der Medizin, der Theologie und vieler anderen Wissenschaften?“, fragte Christoph nach.

      „Ja, aber der ist wie gesagt kein Student mehr. Der ist schon fertig mit seinem Studium und ist nun ein Arzt“, erwiderte der Wirt, „der Meiers Friedrich, einer der Philosophiestudenten, der kennt ihn gut. Ist auch so ´n Eigenbrötler wie der Steller. Morgen am Sonntag, da kommt er gewöhnlich zum Mittag vorbei. Soll ich Euch miteinander bekannt machen?“

      „Wenn sie wollen“, Christoph war nicht sehr begeistert, er kannte den Steller ja nur aus seiner Anfangszeit vor über zehn Jahren in Windsheim, da war er ihm ein paar Mal begegnet. Was wollte er nun mit diesem Meier? Aber was soll´s, war vielleicht eine kleine Abwechslung während der Warterei.

      Am nächsten Tag stellte der Wirt die beiden einander vor: „Meister Bartel kommt, setzt Euch hier an den Tisch. Das ist der Student Meier, er kann Euch weiterhelfen.“

      Widerwillig setzte sich Christoph.

      Es wurde erfreulicherweise ein lustiger und unterhaltsamer Nachmittag, den man in der Sonne sitzend vor dem Wirtshaus gemeinsam verbrachte. Von dem Studenten der Philosophie und Theologie erfuhr der Schneidermeister, dass von den Abgesandten des Zaren immer noch Wissenschaftler aller Fachrichtungen und auch Handwerker zur Erkundung des großen russischen Reiches gesucht wurden. Auch Steller versuchte dort sein Glück.

      „Wäre das nicht etwas für uns?“, fragte Anna Maria ihren Mann, „Wir bräuchten dann nicht über das große Meer.“

      Im Grunde war das die größte Angst der Windsheimerin, das durfte sie sich aber nicht anmerken lassen, denn ihr Mann zeigte dafür kein Verständnis.

      „Fahrt nach Leipzig, dort ist die Gesandtschaft. Zahlen sollen die auch recht gut. Viele Studenten von hier sind schon in deren Dienste getreten“, riet Meier ihnen.

      „Das müssen wir noch einmal in Ruhe besprechen. Habt jedenfalls vielen Dank. Sollten wir nächsten Sonntag immer noch hier sein, junger Freund, so seid Ihr gerne zum Mittagessen eingeladen“, damit verabschiedete sich Christoph.

      Später am Abend drängte Anna Maria ihren Mann: „Nun sag doch schon was! Was hältst du davon? Gehen wir nach Russland! Neu anfangen wolltest du doch, warum nicht im Osten statt im Westen? Seit der Zarin Katharina sprechen doch viele Russen auch deutsch.“

      „Ich weiß nicht. Amerika soll das Land der Freiheit sein. Dort in Russland herrscht genauso der Adel wie bei uns. Aber wenn du meinst, können wir uns ja in Leipzig bei der Gesandtschaft erkundigen.“

      Die Zarin Anna Iwanowna setzte die wissenschaftlichen Forschungen ihres vor drei Jahren gestorbenen Onkels, Zar Peter, fort. Sie sei als eine Freundin der Deutschen bekannt, hatten ihm Meier und seine Kommilitonen erzählt. „Vielleicht kann ich dort mein neues Glück versuchen. Forschungsreisen - so richtig vorstellen, was das ist, kann ich mir nicht”, meinte Christoph zu seiner Frau, als er das Licht ausblies, „schlaf jetzt, morgen wird ein harter Tag.“

      Lange noch blieb Christoph in dieser Nacht wach liegen und grübelte vor sich hin. Vielleicht kam er dort, in den Weiten des russischen Reiches, zur Ruhe?

      2 Tommaso 1730

      Hoch über dem Tal des Fiume Ladro thronte majestätisch auf einem senkrecht aufragenden Felsvorsprung der Landsitz des Conte Paolo Alessandro de Cardinali. Das Adelsgeschlecht der Cardinali reichte zurück bis weit vor Kaiser Friedrich, der seinen Hauptwohnsitz in Palermo hatte. In den zurückliegenden Jahrhunderten hatte es die Familie zu Ruhm und Reichtum gebracht. Der Vater des jetzigen Conte hatte allerdings fast alles verspielt, sodass die Familie zwar noch einige Palazzi, Fattorie und den Hauptwohnsitz auf der Piazza di Duomo in Siracusa hatte, politische Macht und Vermögen aber waren verschwunden.

      Wenn die Hitze im Sommer in der großen Stadt unerträglich wurde, entflohen sie in die vor einigen Jahren neu errichtete Villa in der Campagna. Die angeschlossene Fattoria sorgte für den nötigen Unterhalt und machte das Landleben für die Herrschaften recht angenehm.

      Obwohl er schon zehn Jahre alt war, hatte Tommaso noch nicht mal seine Erstkommunion erhalten. Aber der Monsignore Alfredo, der ab und zu einmal aus Palazzolo Acreide herüberkam, übersah ihn immer, weil er so zierlich und klein war - selbst für einen Sizilianer.

      „Für dich hat es nicht mehr ganz gereicht“, meinte Mutter immer scherzhaft. Alle seine Geschwister waren für sizilianische Verhältnisse ziemlich groß. Er gab die Hoffnung nicht auf, dass auch er noch etwas wachsen würde. Sehnsüchtig schaut er nach oben zum Palazzo.

      „Der ist bestimmt so hoch oben wie die Kirchturmspitze vom Dom in Palazzolo Acreide“, vermutete seine Mutter.

      Er wusste nicht, wie hoch der war, denn er war noch nie aus dem kleinen Tal herausgekommen, allerhöchstens bis zu Giovanni, dem alten Schweinehirten vorne am Berg. Von dort konnte man weit in der Ferne die Stadt schimmern sehen, zu Fuß etwa eine Tagesreise hin und zurück.

      „So möchte ich auch einmal wohnen oder wenigstens da oben arbeiten“, träumte Tommaso. Aber das hatte ja noch ein wenig Zeit. Er hoffte noch immer, die Schule besuchen zu dürfen. Das Wenige, das ihm bisher seine Mutter beigebracht