»Es ist Zeit, daß Sie sich waschen und schreiben«, sagte der beharrliche Sachar.
»Ja, es ist wirklich Zeit«, erwiderte Ilja Iljitsch, zur Besinnung kommend. »Gleich; geh nur! Ich will nachdenken.«
»Wann hat er es nur fertig bekommen, sich wieder hinzulegen!« brummte Sachar, während er auf den Ofen sprang. »Ein flinker Mensch.«
Oblomow hatte die in der langen Zeit schon vergilbte Seite zu Ende gelesen, auf der er vor einem Monat seine Lektüre abgebrochen hatte. Er legte das Buch gähnend auf seinen Platz; dann vertiefte er sich in die unabweisbaren Gedanken über das »Unglück in zwiefacher Hinsicht«.
»Wie langweilig!« flüsterte er, indem er die Beine bald ausstreckte, bald an den Leib zog.
Er hatte große Lust, sich einer süßen Ruhe und angenehmen Träumereien zu überlassen; er wandte die Augen zum Himmel und suchte seine geliebte Sonne; aber sie hatte gerade ihren höchsten Stand erreicht und übergoß nur mit blendendem Glanze die Kalkwand des Hauses, hinter dem sie abends immer den Blicken Oblomows entschwand.
»Nein, zuerst die Arbeit«, sagte er streng zu sich selbst, »und dann . . .«
Der Morgen war nach ländlicher Lebensweise längst vorbei, nach Petersburger seinem Ende nah. An Ilja Iljitschs Ohr drang von draußen der vermischte Lärm menschlicher und nicht menschlicher Stimmen: der Gesang wandernder Künstler, der meist von Hundegebell begleitet wurde. Es kamen Leute, die allerlei Meergetier zeigten; alle möglichen Produkte wurden gebracht und mit verschiedenen Stimmen ausgeboten.
Er legte sich auf den Rücken und schob beide Hände unter den Kopf. Ilja Iljitsch beschäftigte sich mit der Ausarbeitung seines Planes für das Gut. Er durchlief schnell im Geiste einige wichtige grundlegende Paragraphen über den Pachtzins und über das Pflügen, dachte sich eine neue, strengere Maßregel gegen die Faulheit und das Vagabundieren der Bauern aus und ging dann zur Einrichtung seines eigenen Lebens auf dem Lande über.
Es beschäftigte ihn der Bau eines Gutshauses; er verweilte mit Vergnügen einige Minuten bei der Verteilung der Zimmer, bestimmte die Länge und die Breite des Speisezimmers und des Billardzimmers und überlegte, nach welcher Seite die Fenster seines Arbeitszimmers hinausgehen sollten; er dachte sogar an die Möbel und an die Teppiche.
Darauf errichtete er einige Nebengebäude, unter Berücksichtigung der Zahl der Gäste, die er aufzunehmen beabsichtigte, und bestimmte die Plätze für die Ställe, die Scheunen, die Gesindewohnungen und für anderweitige Baulichkeiten.
Endlich wandte er sich zum Garten: er beschloß, die alten Linden und Eichen alle so zu lassen, wie sie waren, die Apfel- und Birnbäume aber umhauen zu lassen und an ihrer Stelle Akazien zu pflanzen; er nahm auch schon einen Park in Aussicht; aber als er im Kopfe einen ungefähren Kostenanschlag machte, fand er, daß die Sache doch zu teuer würde, verschob dies auf eine andere Zeit und ging zu dem Blumengarten und den Treibhäusern über.
Hier leuchtete in seinem Kopfe der Gedanke an das künftige Obst mit solcher Lebhaftigkeit auf, daß er sich plötzlich um einige Jahre voraus auf das Gut versetzt sah, wenn dieses schon nach seinem Plane eingerichtet sein und er dann dauernd dort leben würde.
Er stellte sich folgendes vor: er sitzt an einem Sommerabende auf der Terrasse am Teetisch, unter dem für die Sonne undurchdringlichen Laubdache der Bäume, mit einer langen Pfeife, zieht träge den Rauch ein und genießt nachdenklich die Aussicht, die sich zwischen den Bäumen auftut, und die Kühle und die Stille. In der Ferne liegen die gelben Kornfelder; die Sonne senkt sich hinter das wohlbekannte Birkenwäldchen hinab und rötet den spiegelglatten Teich; von den Feldern steigt ein Dampf auf; es wird kühl; die Dämmerung bricht an, die Bauern kehren in Scharen nach Hause zurück.
Das Gesinde sitzt müßig am Tor; dort ertönen fröhliche Stimmen, Gelächter und Balalaikaspiel; die Mädchen spielen Haschen; um ihn selbst tollen seine Kleinen herum, klettern ihm auf die Knie, hängen sich an seinen Hals; beim Samowar sitzt sie, die Königin all dessen, was ihn umgibt, seine Göttin . . . ein Weib, seine Frau! Unterdessen aber sind in dem mit eleganter Einfachheit möblierten Speisezimmer freundliche Lichter angezündet und der große runde Tisch gedeckt worden; Sachar, der zum Haushofmeister befördert worden ist und schon einen vollständig ergrauten Backenbart hat, deckt den Tisch, stellt das lieblich tönende Kristallgeschirr darauf und legt das Silberzeug umher, wobei er alle Augenblicke bald ein Glas, bald eine Gabel auf die Erde fallen läßt; sie setzen sich zu dem opulenten Abendbrot hin; da sitzt auch sein Kamerad von der Kindheit her, sein unveränderlicher Freund Stolz, und andere, ihm sämtlich wohlbekannte Gäste. Nachher gehen sie schlafen . . .
Oblomows Gesicht wurde plötzlich von der Röte der Glückseligkeit übergossen: die Träumerei war so klar, so lebhaft und so poetisch, daß er auf einmal sein Gesicht dem Kissen zuwandte. Er empfand eine undeutliche Sehnsucht nach Liebe und stillem Glück, ein heißes Verlangen nach den Feldern und Hügeln seiner Heimat, nach seinem Hause, nach einer Frau und Kindern . . .
Nachdem er etwa fünf Minuten lang so mit dem Gesichte nach unten dagelegen hatte, drehte er sich wieder auf den Rücken. Sein Gesicht strahlte von einer sanften Rührung: er war glücklich.
Mit einem wonnigen Gefühle streckte er langsam die Beine aus, so daß sich dabei die Beinkleider ein wenig in die Höhe schoben; aber er beachtete diese kleine Unordnung nicht. Die gefällige Phantasie trug ihn in leichtem, freiem Fluge in eine ferne Zukunft.
Jetzt nahm ihn sein Lieblingsgedanke vollständig in Anspruch: er dachte an eine kleine Kolonie von Freunden, die sich in kleinen Dörfern und Farmen, in einer Entfernung von fünfzehn bis zwanzig Werst um sein Gut herum, ansiedeln werden. Dann werden sie täglich beieinander die Reihe herum zusammenkommen, Mittagbrot und Abendbrot essen und tanzen; ihm stehen lauter heitere Tage vor Augen, lauter heitere Gesichter, ohne Sorgen und Runzeln, lachende, runde Gesichter mit roter, gesunder Hautfarbe, mit Doppelkinn und mit nie versagendem Appetit; es wird ein ewiger Sommer, eine ewige Freude, ein wonniges Schmausen, ein süßes Nichtstun sein . . .
»O Gott, o Gott!« sagte er aus der Fülle der Seligkeit heraus und kam zur Besinnung.
Von draußen erscholl es fünfstimmig: »Kartoffeln!« – »Sand! Brauchen Sie keinen Sand?« – »Kohlen! Kohlen!« – »Barmherzige Herrschaften, spenden Sie etwas zum Bau eines Gotteshauses!« Und aus der Nachbarschaft, wo ein Haus neu gebaut wurde, hörte man das Pochen der Äxte und die Rufe der Arbeiter.
»Ach!« seufzte Ilja Iljitsch laut und schmerzlich. Und dann dachte er: »Was ist das für ein Leben! Wie gräßlich ist dieser großstädtische Lärm! Wann wird das ersehnte paradiesische Leben beginnen? Wann werde ich zu meinen heimatlichen Feldern und Wäldern zurückkehren? Könnte ich doch jetzt unter einem Baume im Grase liegen und durch die Zweige nach der Sonne blicken und zählen, wieviel Vögelchen auf den Zweigen umherspringen! Und da bringt einem eine rotbackige Magd mit nackten, runden, weichen Armen und sonnengebräuntem Halse bald das Frühstück und bald das Mittagessen auf den Grasplatz heraus; sie schlägt die Augen nieder, die Schelmin, und lächelt . . . Wann wird diese Zeit nur endlich anbrechen? . . .«
»Aber der Plan! Aber der Dorfschulze! Aber die Wohnung!« sagte eine Stimme in seinem Gedächtnisse.
»Ja, ja!« antwortete Ilja Iljitsch eilig; »gleich, diesen Augenblick!«
Oblomow richtete sich schnell auf und setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin; dann ließ er die Beine auf den Fußboden hinab, fuhr in beide Pantoffeln gleichzeitig hinein und blieb so eine Weile sitzen; dann stand er ganz auf und blieb so etwa zwei Minuten lang nachdenklich stehen.
»Sachar, Sachar!« rief er laut, indem er nach dem Tische und dem Tintenfass hinblickte.
»Was ist denn da noch los?« hörte man mit dem Geräusche des Sprunges zugleich. »Meine Beine können mich kaum noch tragen«, fügte Sachar, heiser flüsternd, hinzu.
»Sachar!« wiederholte Ilja Iljitsch nachdenklich, ohne die Augen von dem Tische abzuwenden. »Sieh mal, Bruder . . .« begann er und zeigte dabei auf das Tintenfaß; aber ohne den Satz