„Er zählt den Lauf der heißen Tränen und fasst zuhauf all unser Sehnen. Gib dich zufrieden!“
Ja, das musste sie wohl: sich zufrieden geben. Sie war jetzt in Berlin, und da hatte sie schließlich hin gewollt, und dass alles ganz anders war, als sie es sich vorgestellt hatte, das war eben so, wie es war. Es hätte ja alles noch viel schlimmer kommen können, wenn sie nur daran dachte, was das vielleicht mit dieser grell geschminkten Dame am Bahnhof zu bedeuten gehabt hatte ... Der Herr Lehrer hatte sie ja gewarnt: So schnell konnte es gehen, dass man in Berlin in der Gosse landete. Jetzt war sie jedenfalls bei anständigen Leuten und der Herr Polizeihauptmann passte auf, dass sie nicht unter die Räder kam. Sollte sie sich da etwa nicht zufrieden geben?
Fünfzehn Mark Lohn, das war doch was, auch wenn sie davon erst mal die Schürzen bezahlen musste, was sie nicht gerecht fand, aber es musste wohl so sein. Die gnädige Frau tat bestimmt nichts gegen das Gesetz. Aber dass sie nicht mit bei Tisch sitzen durfte! Als sei sie aussätzig. Da kam man sich nicht als Mensch vor, sondern wie ein Stück Vieh.
„Er hört die Seufzer deiner Seelen und des Herzens stilles Klagen, und was du keinem darfst erzählen, magst du Gott gar kühnlich sagen ...“ Ja, das wollte sie, Gott wollte sie es sagen, weil es ihr bei der gnädigen Frau die Sprache verschlagen hatte. Kein Wort hatte sie herausgebracht, als die gnädige Frau nach dem Abendessen die Reste von der Tafel — das große Stück Fleischwurst und das Eckchen Käse und das schöne frische Brot und die Äpfel und den Butternapf — in der Speisekammer verschlossen hatte, den Schlüssel eingesteckt und ihr einen Kanten vertrocknetes Brot mit der Bemerkung hingeschoben hatte: Das kannst du in die Kartoffelsuppe brocken, dann wird es weich. Altes Brot ist viel gesünder als frisches und sättigt besser. Und hier, den Milchreis kannst du auch haben!, und dabei mit dem Löffel die Schimmelschicht abgehoben hatte, die auf dem Reis wuchs, als ob Lene es nicht längst gesehen hätte, dass der Brei ganz verdorben war!
Nein, den Milchreis hatte sie nicht gegessen, sie wollte nicht krank werden an ihrem ersten Arbeitstag. Sie hatte sich den Rest Suppe mit Wasser verdünnt und das Brot drin eingeweicht, aber satt war sie nicht geworden von dem alten Brot. Und das war so gemein, so gemein, so gemein, denn sie hatte gut gearbeitet, hatte schnell und gründlich Staub gewischt trotz all dieser blöden Sachen, die auf den Möbeln herumstanden, und hatte beim Abspülen nichts kaputtgemacht und hatte jeden Auftrag ausgeführt und bis nach zehn Uhr noch die vorknöpfbaren Hemdbrüste für den gnädigen Herrn gestärkt und gebügelt, dass sie ganz steif geworden waren und glänzten wie Seide! Und für gute Arbeit gab es gutes Essen, so war es immer gewesen daheim, aber hier war es nicht so, und das tat so weh, dass ihr schon wieder die Tränen kamen.
„Es kann und mag nicht anders werden: alle Menschen müssen leiden; was webt und lebet auf der Erden, kann das Unglück nicht vermeiden ...“, sang Lene schluchzend vor sich hin. Langsam wurde sie ruhig. Und müde, so unendlich müde. Gib dich zufrieden, zufrieden!, raunte es in ihrem Kopf. Sie tastete neben sich auf den Boden, wo sie vor dem Zubettgehen das Gedichtbuch hingelegt hatte. Sie schob es sich unter den Kopf, drehte das Gesicht darauf, berührte es mit den Lippen, sog den Duft ein: Pfeifentabak und Schulstube, der Geruch des Herrn Lehrer.
Daheim ...
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