„Ja, Herr Wachtmeister!“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
Wie lange sah sich der Herr Polizeihauptmann ihre Zeugnisse denn noch an? Erst das Schulzeugnis, dann das Zeugnis, das ihr die Frau Lehrer über ihre Arbeit als Haus- und Kindermädchen geschrieben hatte. Und jetzt betrachtete er das Gesindebuch mit dem Eintrag ihres Dienstes beim Herrn Lehrer mit einem Misstrauen, als erwarte er, auf die Spur einer Straftat zu stoßen!
Der Wachtmeister unten in der Wachstube hatte sie hier heraufgeschickt zum Herrn Polizeihauptmann. Weil der ein Dienstmädchen suche, wie der Wachtmeister gesagt hatte, nachdem er ihre Papiere studiert hatte.
Dienstmädchen bei einem Polizeihauptmann ... Eigentlich hatte sie nie etwas mit der Polizei zu tun haben wollen, und schon gar nicht mit einem Hauptmann! Aber wenn in Berlin so seltsame Sachen passierten wie das mit der Dame am Bahnhof, die offensichtlich gar keine Dame gewesen war und die wahrscheinlich etwas mit ihr vorgehabt hatte — sie mochte sich gar nicht vorstellen, was —, dann war es am besten, sich an die Polizei zu halten. Das würde bestimmt auch der Herr Lehrer sagen. Etwas Anständigeres als einen Polizeihauptmann konnte es doch nicht geben, oder?
Lene trat verstohlen von einem Fuß auf den anderen. Die Riemen des Tragekorbes schnitten in ihre Schultern, aber sie traute sich nicht, ihn abzunehmen. Der Herr Polizeihauptmann hatte sie nicht dazu aufgefordert. Er hatte ihr auch nicht gesagt, dass sie sich setzen dürfe.
Halb und halb begann sie zu wünschen, er möge sie ablehnen. Er sah so streng aus und so unerreichbar in seiner Uniform und mit seinem gezwirbelten Schnurrbart und den tiefen, steilen Falten zwischen den Augenbrauen und dem Monokel, das er sich zum Lesen vor das rechte Auge geklemmt hatte. Kaum wagte sie zu atmen.
„Mutter: Marie Schindacker“, las der Herr Polizeihauptmann vor. „Vater: unbekannt!“ Der Ton, in dem er das sagte! Ein Blick traf sie, als sei sie soeben eines Verbrechens überführt worden.
Lenes Kopf wurde heiß. Und sie hatte geglaubt, nach Berlin würde sie das nicht verfolgen!
Er ist gar nicht unbekannt, es ist der Siewer-Bauer, wollte sie widersprechen. Sie schwieg. Es würde alles nur schlimmer machen.
Sie wünschte sich weg.
Er versenkte sich wieder in ihre Papiere. „Das andere scheint alles in Ordnung zu sein — soweit man solchen Zeugnissen trauen darf!“, erklärte er schließlich und verstaute umständlich das Monokel an der goldenen Kette in seiner Brusttasche. „Fünfzehn Mark Lohn monatlich, Kost und Logis. Du hast alle Arbeiten zu erledigen, die du von der gnädigen Frau aufgetragen bekommst, und zwar zügig, ordentlich und unauffällig! Wenn ich eines hasse, dann dass man andauernd über Besen und Putzeimer stolpert oder Geschirrgeklapper hört! Eine Wohnung hat sauber zu sein, aber man hat nicht zu merken, wie sie sauber gemacht wird, merk dir das. Und keine Widerworte! Alle vierzehn Tage ein freier Sonntagnachmittag, vor Torschluss Punkt zehn Uhr hast du am Abend zurück zu sein und keine Sekunde später. Kein Besuch, wohlgemerkt! Und dass du dich nicht in dunklen Hauseingängen rumdrückst und mit Burschen anbandelst, dann fliegst du, und zwar hochkant, verstanden?“
„Ja, Herr Polizeihauptmann“, brachte Lene hervor und knickste. Hieß das, er wollte sie anstellen? Unheimlich wurde ihr bei diesem Gedanken. Genau genommen sträubte sich alles in ihr dagegen. Aber Nein zu sagen — ging das überhaupt?
„Vermeide grundsätzlich, nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße zu sein!“, fuhr er im Ton strenger Ermahnung fort. „Du könntest für ein zweifelhaftes Frauenzimmer gehalten und von der Polizei aufgegriffen und zur Sitte gebracht werden, das ist die einschlägige Polizeistation. Was dich dort erwartet, das will ich dir lieber nicht erzählen — dann bist du abgestempelt für dein Leben, also sieh dich vor! Und dass du mir nicht die Sitten vom Land in meinen Haushalt einschleppst! Ihr vom Landvolk habt einen merkwürdigen Begriff von Moral, das sieht man ja schon daran, dass du keinen Vater hast. Aber mein Haushalt ist ein anständiger Haushalt. Ich habe vier Kinder, ich achte auf Moral, also keine zweifelhaften Bemerkungen zu den Kindern und kein verdorbenes Verhalten, sonst bekommst du es mit mir zu tun! Verstanden?“
„Verstanden“, flüsterte sie und machte wieder einen Knicks. Sitten vom Land, verdorbenes Verhalten — wovon sprach er überhaupt? Das sieht man ja schon daran, dass du keinen Vater hast ...
Sie wollte weg, zurück nach Hause, zur Frau Lehrer. Lieber keine fünfzehn Mark verdienen und sich dafür nicht solche Sachen anhören müssen und so allein sein, so grausam allein.
Doch die Frau Lehrer hatte sie fortgeschickt. Und schließlich war sie kein Kind mehr, schon lang nicht mehr, und hatte schon mit fünf Jahren die Gänse gehütet und war sogar mit dem Ganter fertig geworden.
Trotzdem: Das hier, das war etwas anderes.
Er schrieb etwas auf einen Zettel und schob ihr diesen über den Tisch. „Hier, das ist meine Adresse. Du kannst mit dem Pferdeomnibus fahren, der hält genau gegenüber der Wache, die Linie habe ich dir aufgeschrieben. Und jetzt geh und melde dich bei der gnädigen Frau. Sag ihr, ich habe dich engagiert!“
„Ja!“ Sie knickste wieder. Und dachte: Ich brauche da nicht hinzugehen. Ich muss ihm gar nicht sagen, dass ich nicht zu ihm will. Einfach nicht in diesen Bus steigen. Zur Vermittlungsstelle gehen und mir was anderes suchen. Wenn ich heute nichts finde, dann morgen. Dann muss ich mir eben in einer Pension ein Bett für die Nacht nehmen, für eine Nacht reicht mein Geld.
Erleichtert atmete sie auf: Ja, so machte sie es. Besser keine Stelle als eine bei diesem Herrn da!
„Auf Wiedersehn dann, Herr Polizeihauptmann!“ So schnell wie möglich wollte sie weg, doch im Gehen fiel ihr ein: „Ach, bitte, kann ich die Zeugnisse und das Gesindebuch wiederhaben?“ Sie streckte die Hand aus.
Er faltete die Zeugnisse zusammen, steckte sie in das Gesindebuch, öffnete eine Schreibtischschublade, legte das Gesindebuch hinein, schob die Schublade zu und schloss sie ab. „Deine Papiere behalte ich hier für dich in sicherer Verwahrung, solange du bei mir in Dienst bist!“, erklärte er gelassen und sah ihr kühl ins Gesicht. „Das ist besser so! Du glaubst nicht, wie oft Gesindebücher verloren gehen! Bis heute Abend, Lene!“
Sie floh aus seinem Zimmer, den Flur entlang, die Stufen hinunter, stand auf der Straße. Ein Pferdeomnibus hielt, sie kletterte hinauf und zwängte sich durch die schmale Tür. Mit der Rückentrage fegte sie einem sitzenden Arbeiter die Mütze vom Kopf. „Nun passen Sie doch auf, Fräulein!“, raunzte er sie an. Kein Sitzplatz frei, die mächtigen Pferde zogen an. Das Gefährt ruckte und sie klammerte sich am Geländer der nach oben führenden Treppe fest. Der Kondukteur kam mit dem Billet. Sie hielt ihm den Zettel mit der Adresse hin, aber er schüttelte den Kopf: „Da sind Sie in die falsche Richtung eingestiegen, Fräulein! Streng genommen müsste ich Ihnen den Preis trotzdem berechnen. Sie sind wohl fremd zugezogen, was?“
Lene nickte, zerknüllte den Zettel in ihrer Hand. „Heute!“
„Na dann, beim nächsten Halt raus und über die Straße rüber, und am besten fragen Sie, wann Sie aussteigen müssen!“
Wieder stand sie auf der Straße. Es hatte angefangen, in Strömen zu regnen, förmlich zu schütten; ein Frühjahrsgewitter ging nieder. Das Wasser floss ihr aus den Haaren, rann über ihre Wangen, als wären es Tränen.
Mit durchnässtem Kleid saß sie endlich im richtigen Pferdeomnibus, die Rückentrage hielt sie an sich gepresst auf dem Schoß. Auf einmal war ihr alles auf merkwürdige Art gleichgültig. Der Polizeihauptmann hatte ihre Papiere behalten. Sie musste bei ihm dienen, hatte keine Wahl, na und? Beim Siewer-Bauern hatte sie auch dienen müssen und keiner hatte sie gefragt.
Hinter den beschlagenen Fenstern zog die Stadt vorbei, Haus an Haus, höher als die Kirche daheim waren die meisten. Selten ein Baum, nie ein Vorgarten oder auch nur eine Blume. Wie Ameisen die Menschen, eilig, hastig, keiner blieb stehen zu einem kleinen Plausch, keiner schien den anderen zu kennen.
Der Kondukteur bedeutete ihr auszusteigen. Sie kletterte