Jamil - Zerrissene Seele. Farina de Waard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Farina de Waard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738060324
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Söhnen etwas zu, aber sie konnten durch das laute Tosen des Sturms kein Wort verstehen.

      Eine Klippe tauchte hinter einigen Wellenkämmen auf und ragte wie eine gigantische Tempelmauer vor ihnen in die Höhe. Jamil packte den Alten fester.

      Im nächsten Moment erzitterte das Schiff, als es krachend gegen die Felsen vor der Klippe schlug. Die Gestalten an Deck wurden allesamt zu Boden gerissen, Jamil bekam einen Hieb in den Rücken, als er gegen die Reling geschleudert wurde. Der Mast über ihnen schwankte bedrohlich, während sich der Rumpf mit dem donnernden Knirschen von splitternden Balken festsetzte.

      Der Wind heulte weiter, als wäre nichts passiert … und einen kurzen Augenblick war nur der Sturm zu hören, bevor andere Geräusche an Jamils Ohr drangen.

      Schreie wurden im Schiffsbauch laut. Er überließ den alten Tirin sich selbst und schlitterte über das nasse Deck zur Luke. Balor eilte ihm von Steuerbord entgegen und gemeinsam wuchteten sie die schweren Türen auf.

      Unten breitete sich Panik aus, da Wasser in der Dunkelheit eindrang. Jamil sah im Schein der wenigen Öllampen, wie es schwarzem Pech gleich zwischen ihren Füßen anstieg.

      »Beruhigt euch!«, rief Jamil über den Sturm und das Weinen der Kinder hinweg. »Wir holen euch raus!«

      Er wollte noch mehr sagen, aber sein Bruder stürzte von der Luke weg.

      »Wir müssen an Land!«, brüllte Balor gegen den Wind und schwang sich schon über die Reling. Jamil packte ihn bei den Schultern und starrte fest in die panischen Augen seines Bruders. Es kostete ihn all seine Kraft, Balor davon abzuhalten, sich über Bord zu stürzen.

      »Sei kein Narr! Die Wellen sind viel zu hoch, sie werden dich gegen die Felsen schlagen und du ertrinkst!«

      Balor wehrte sich noch kurz gegen seinen Griff, wurde jedoch bereits von Jamils erzwungener Ruhe angesteckt.

      »Wir müssen durchhalten. Das Schiff sitzt fest, aber das bedeutet auch, dass wir nicht sinken können! Komm schon, wir haben die letzten Wochen auf dem Meer überlebt, da schaffen wir das auch! Geh zu Vater und zählt alle durch! Wir müssen wissen, ob jemand über Bord gegangen ist.«

      Sein jüngerer Bruder nickte kantig und eilte davon. Jamil atmete tief durch, dann entdeckte er die beiden Schmiedelehrlinge Farnir und Felik, die sich noch immer an ein Seil klammerten.

      Sie sahen ihn an wie einen Geist. Jamil hatte einen Moment lang das Gefühl, er sei bisher der einzige, der erkannt hatte, dass sie nicht ertrinken würden.

      »Reißt euch zusammen! Wir sind alle keine Seeleute, aber es ist bald vorbei!«, sagte er etwas barscher als nötig, löste Farnirs schwielige Finger vom Seil und zog ihn auf die Beine. Dann endlich folgten die beiden ihm zurück zur Luke. Einige andere hatten sich mittlerweile ebenfalls beruhigt und schlossen sich an.

      Jamil rutschte die steile, nasse Treppe hinab und spürte den Griff seiner Mutter, die ihre dünnen Hände um seinen Arm klammerte. Auch andere Frauen packten ihn angsterfüllt.

      »Bringt alle Kinder nach oben!«, rief er seiner Mutter zu, schnappte sich eine der Öllampen und watete durch das steigende, schwarze Wasser zur geborstenen Schiffswand, aus der das salzige Nass unerbittlich ins Schiff sprudelte.

      »Wir müssen alles ins Zwischendeck oder nach oben unter das Segel bringen, was nicht völlig durchnässen soll!«, rief er in die Runde und ergriff einen Eimer, der im Wasser trieb. Jamils Mutter wirkte zwar noch immer verängstigt, doch sie folgte seinem Beispiel und beorderte die anderen Frauen, den restlichen Proviant und andere Dinge vor dem Wasser in Sicherheit zu bringen.

      Sie zerrten alles aus den Ladungsnetzen und reichten es zur Luke, durch die gerade die Kinder hinaufgezogen wurden. Bei mehreren konnte er dunkelrote Flecken erahnen, auch einige Frauen wirkten stark mitgenommen, da der Sturm sie gegen die Ladung geworfen hatte.

      Oben polterten Schritte laut über das Deck und Jamil hörte seinen Vater, der befahl, das heruntergeschnittene Segel zur Seite zu räumen.

      Obwohl sie den Sturm überlebt hatten, wurde es eine der längsten Nächte ihres Lebens. Das Wasser drang an etlichen Stellen in den Bauch des Schiffes, das ihre einzigen Habseligkeiten beherbergte. Die Kinder wurden in dem schmalen Zwischendeck in die wenigen noch trockenen Stoffdecken gewickelt, doch unter ihnen war der Kampf gegen das Wasser aussichtslos. Vieles musste in der Dunkelheit bleiben, da sie es bei all dem Regen und nassen Holz nicht hinauf bekamen oder es ohnehin nur von Bord gespült worden wäre.

      In einem kleinen Moment der Ruhe spähte Jamil durch die Regenschwaden auf das Land. Rechts und links ragten schroffe, schwarze Klippen in die Höhe, die im schwachen Dämmerlicht gar kein Ende zu nehmen schienen. Doch vor ihnen öffnete sich diese Wand zu einer Bucht. Jamil konnte durch den grauen Regen einen aufgewühlten kleinen Strand erkennen, auf den die Wellen mit weiß leuchtendem Schaum einschlugen.

      Erst am Morgen flaute der Wind ab und die Wogen beruhigten sich. Die dunkle Wolkendecke riss auf und dichte Nebelschwaden trieben über die bewaldeten Hügel, die jetzt hinter der Bucht zum Vorschein kamen.

      Balor und Jamil kletterten unter dem Blick der Versammelten an einer Strickleiter auf die Felsen hinab, die ihr Schiff aufgeschlitzt hatten. Ihr Beiboot hatte sich schon zu Beginn des Sturmes losgerissen und war verschwunden, also mussten sie eine andere Lösung finden.

      Während die Leute oben an Deck angespannt warteten, suchten Jamil und sein Bruder gemeinsam einen Weg durch das Wasser. Glücklicherweise wurde es direkt hinter den großen Felsen, gegen die das Schiff getrieben war, so flach, dass sie dort stehen konnten. Andere folgten ihrem Beispiel.

      Sie reichten die Kinder von Arm zu Arm, halfen den Frauen und Alten und waren alle durchgefroren und erschöpft, als sie endlich den Strand erreichten.

      Die alte Yesima hielt sich resolut auf den Beinen, als sie, gefolgt von ihren Töchtern, die Bucht hinauf in die sanfte, große Senke zwischen zwei Hügeln schritten. Sie kostete von dem Wasser des Baches, der an einer Seite der Senke zur Bucht hinunter plätscherte und nickte dann wohlwollend.

      Jamils Blick wurde bereits von der Tiefe des nahen Waldes angezogen. Nach der langen Zeit auf dem Schiff trug ihm der Wind jetzt den Geruch von nasser Erde und grünen Bäumen entgegen. Es lockte ihn, zwischen die Baumriesen zu treten und die fremde Natur zu erkunden.

      Doch zunächst verhinderten das seine Pflichten als erster Sohn des Rätors. Die Seherin zog unter dem Blick der Versammelten siebzig Seelen einige Knochen aus einem nassen Beutel und befragte die Götter, während die Schiffbrüchigen angespannt vor dem friedlich wirkenden Wald in der Senke warteten.

      Yesima warf die Tierknochen auf ihr Tuch, murmelte heilige Formeln und kniete sich auf die Erde. Im nächsten Moment sackte ihr der Kopf auf die Brust und sie zitterte, schwankte und flüsterte.

      Jamil stand schräg hinter ihr und konnte sehen, dass ihre Augen nur noch das Weiße zeigten. Alle hielten den Atem an, als sie sich endlich wieder aufrichtete und an ihre Schützlinge wandte.

      »Dieses Land ist den Göttern genehm! Sie geben uns ihren Segen und werden uns schützen, wenn wir hier siedeln. Doch wir müssen möglichst bald einen Schrein für sie errichten, denn sie verlangen ein großes Opfer für ihren Schutz auf dem Meer. Nur dank ihrer Hilfe konnten wir die toten Felsinseln und den Sturm überstehen.«

      Ein allgemeines Aufseufzen ging durch die Menge, während Jamil still die Augen verdrehte.

      Als ob man das Schutz nennen könnte, dachte er für sich, erwiderte aber das erleichterte Lächeln seiner Mutter.

      Sie überließen die beiden Töchter der Seherin ihren Gebeten und Jamil wartete neben seinem Vater, um sich mit ihm, Balor und der alten Yesima zu beraten. Aldo starrte mit gerunzelter Stirn auf die bewaldeten Hügel.

      »Wir sollten nach Dörfern suchen, vielleicht kann man uns aufnehmen und helfen«, schlug Jamil vor, da sein Vater keine Anstalten machte, selbst zu sprechen.

      Der Blick der Seherin wurde sofort missbilligend. »Wir brauchen jetzt allen Zuspruch und Schutz der Götter, junger Rätorsohn. Wir dürfen sie nach diesem Sturm