Jamil - Zerrissene Seele. Farina de Waard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Farina de Waard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738060324
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waren.

      Sie würden dazu gehören.

      Gerade als Jamil Gebrüll in den Hafenstraßen hörte und Balor ins Wasser stoßen wollte, damit sie sich unter dem Pier verbergen konnten, fiel sein Blick auf den Rand der großen Bucht. Zwischen den Rauchschwaden schimmerten dort für einen Augenblick die Umrisse eines Handelsschiffes durch, das dem Funkensturm und den Soldaten noch nicht zum Opfer gefallen war.

      Dort waren Menschen, die nicht in schimmernden Uniformen steckten!

      Jamil packte seinen Bruder am Ärmel und deutete in die Richtung, bevor sie den Pier entlangrannten und dabei die glühende Luft einatmeten. Als sie durch den Rauch drangen, erblickten sie Flüchtlinge, die hastig zusammengeraffte Sachen auf das Schiff wuchteten, während andere es zum Auslaufen fertigmachten.

      Männer hievten die letzten Kisten an Bord und lösten gerade die Taue, als die Brüder es erreichten und als Letzte an Deck sprangen.

      Jamil konnte es kaum fassen, als er seine Eltern in der Menge erspähte, beide unversehrt.

      Aldo rief Befehle über das Deck, auf dem sich ein bunter Haufen von Bürgern drängte, von denen die wenigsten jemals zur See gefahren waren. Zwei Matrosen, die von einem der anderen Schiffe entkommen sein mussten, halfen dem Stadtvorsteher und zeigten hektisch, was es zu tun gab, damit endlich die Segel gesetzt werden konnten.

      Frauen und Kinder liefen hastig an Deck hin und her und klopften alles aus, das durch den Funkenflug zu schwelen begann.

      Endlich nahm das Schiff Fahrt auf. Sie hielten es mit Stangen von den brennenden Wracks im Hafen fern und wandten die Gesichter ab, als die Hitze schier unerträglich wurde. Dann ließen sie das Hafenbecken hinter sich.

      Auf dem offenen Meer meinte Jamil für einen kurzen Augenblick noch ein zweites Schiff zu erspähen, dann verhüllte dichter Rauch wieder die Sicht.

      Jamil dachte schmerzerfüllt an die Freunde und die Heimat, die sie alle so plötzlich verloren hatten. Seit er denken konnte, war Kas’Tiel eine friedliche Handelsstadt, jetzt war sie von den Grauen Soldaten zerstört.

      Das Gesicht seiner Mutter war von Tränen und Ruß verschmiert. Sie herzte ihre Söhne und drückte sie so fest, als wolle sie die beiden nie wieder loslassen.

      Der Wind frischte auf, trieb den Rauch fort und trug das Schiff in die Schwärze der Nacht, während Jamil und sein Bruder auf die brennende Stadt starrten, deren Flammensäule sich noch lange im Meer spiegelte.

      Der Sturm

      Ein heftiger Ruck riss Jamil aus unruhigen Träumen. Klamme Dunkelheit und der Geruch von modrigem Holz umgaben ihn. Erst nach und nach gewöhnten seine Augen sich an die Verhältnisse, während sein Magen gegen das Schwanken im Schiffsbauch rebellierte.

      Er setzte sich in der miefigen Hängematte auf und ignorierte das Grollen seines Magens, denn der war ohnehin leer.

      Irgendwo in der Dunkelheit hörte er die Seherin und ihre beiden Töchter beten, die es als Einzige ihrer Zunft aus den brennenden Tempeln auf das Schiff geschafft hatten.

      Es war den Menschen erst allmählich bewusst geworden, dass sie alles verloren hatten und heimatlos waren. Vertriebene, Flüchtlinge, die ihre geliebte Stadt und deren Bewohner nie wiedersehen würden. Sie alle fragten sich verzweifelt, wie die Götter das hatten zulassen können … warum die Seherinnen der vielen Tempel so eine Katastrophe nicht vorhergesehen hatten.

      Jamil dachte an Lezana und ihre Familie. Sein Vater hätte es völlig unabhängig von den Göttern ahnen müssen. Er selbst hätte wissen müssen, dass diese Verlobung ein verzweifelter Versuch von Lezanas Familie gewesen war, ihre einzige Tochter nicht an den Grauen König zu verlieren, der sie als seine Braut eingefordert hatte. Kas’Tiels Geschicke hingen schon immer davon ab, mit allen Nachbarn gute Handelsbeziehungen zu führen. Sie stellten besondere Waren her und hatten den größten, sichersten Hafen an der Küste. Nun war die Stadt dem Hass des Grauen Königs zum Opfer gefallen.

      Jamil presste die Lippen zusammen, als er sich an gestern Nacht erinnerte. Balor hatte in der Hängematte neben ihm geschlafen und in seinen Träumen gemurmelt, dass alles die Schuld seines großen Bruders sei.

      Ein weiterer Ruck lenkte ihn von seinen düsteren Gedanken ab. Das Schiff knarzte und ein hohes Pfeifen drang durch die verschlossene Luke.

      Er stand auf und machte sich schwankend auf den Weg zur Treppe. Auf halbem Weg kam ihm seine Mutter entgegen, ihr Gesicht blass und mager. Im schummrigen Licht der Öllampen wirkte sie wie ein Geist.

      »Navenne, was ist los?«

      Sie klammerte sich an die vertäute Ladung neben der Treppe. »Wir sind in einen Sturm geraten! Aldo braucht dich an Deck.«

      Jamil nickte langsam, während seine Gedanken rasten. Sie hätten schon bei den schroffen Felsinseln beinahe den Kampf gegen das Meer verloren – Jamil hoffte inständig, dass sie diese toten Inseln endgültig hinter sich hatten und der Sturm sie nicht zurücktreiben würde.

      »Gut … beruhige die Frauen und Kinder, damit sie sich festhalten können. Bleibt hier unten, bis wir Entwarnung geben.«

      Als er den Blick durch den dunklen Raum schweifen ließ, wurde ihm bewusst, dass er wohl gerade der einzige Mann unter Deck war. Stirnrunzelnd erklomm er die steile Treppe. Hatte sein Bruder ihn nicht wecken sollen? Was sollte das?

      Mit Mühe drückte er die Luke auf.

      Kalter Regen peitschte über das Schiffsdeck, auf dem die Männer bereits verbissen gegen den Sturm kämpften.

      Jede der großen Wogen spülte salzige Gischt um ihre Füße und schlug donnernd über die Reling. Jamil klammerte sich in das Tauwerk, als eine neue Welle ihm die Füße von den Planken riss.

      Seit fünf Wochen waren sie auf hoher See, hatten alle auf härteste Weise das Überleben an Bord erlernen und die traumatische Flucht vorerst verdrängen müssen. Zuerst waren die Furcht vor Verfolgung und die schrecklichen Träume ihr Feind gewesen, danach der Durst – jetzt lieferte der Sturm ihnen mehr als genug Trinkwasser, ohne dass sie es nutzen konnten.

      Jamil hielt nach seinem Vater und Bruder Ausschau, doch Gischt und Regen verwischten jede Gestalt an Deck zu undeutlichen dunklen Schemen. Gemeinsam mit dem alten Moleno verknotete er einige lose Taue, war jedoch wie die anderen die meiste Zeit damit beschäftigt, sich irgendwo festzuklammern.

      Nach einer Weile ließ der Regen endlich etwas nach und ein heller Streifen zeigte sich am Horizont. Ein Riss in der Wolkendecke, der auf besseres Wetter hoffen ließ.

      Der Streifen blieb jedoch seltsam starr und an der gleichen Stelle … Jamil kniff die Augen zusammen, bevor er ächzte.

      Eine Küste! Sie tauchte vor ihnen im wogenden Meer auf und verschwand wieder. Als er sie das nächste Mal durch den Regen sehen konnte, war sie schon beängstigend nah.

      Die Männer brüllten gegen den Sturm an, der das Schiff und seine Besatzung unerbittlich mit sich riss. Unter Deck konnte Jamil die Frauen und Kinder weinen hören, während die Männer versuchten, das Schiff unter Kontrolle zu bringen.

      »Holt die Segel ein! Wir müssen an Fahrt verlieren!«, schrie Jamil und hörte, wie sein Bruder fast zeitgleich den Befehl weitergab. Auch er hatte den Küstenstreifen entdeckt. Jeder an Deck kämpfte gegen den Wind und Seegang, doch es war unmöglich, die Segel zu reffen.

      »Kappt die Seile!«, brüllte ihr Vater und Jamil zückte sein Messer. Nach einer viel zu langen Zeit fielen die Segel krachend auf die Planken. Der Sturm heulte und drückte sie dennoch unerbittlich mit den Wellen weiter.

      Ein losgerissenes, dickes Tau peitschte knapp an Jamils Kopf vorbei, riss seinen Nebenmann von den Füßen. Er hangelte sich zu dem alten Mann, zog ihn ächzend wieder auf die Beine und hielt ihn fest, als das Deck sich senkte und im nächsten Wellental verschwand.

      In