In dieser Umgebung des Verfalls bewegte Jeffs Vater sich jeden Tag. Zu bewachen gab es da draußen wohl nicht sehr viel, aber trotzdem war die Moulder-Oil ziemlich eigen mit ihrem Grund und Boden. Das Einzige, was Jeffs Vater je von seinem Job erzählt hatte, war, dass es zu seinen Aufgaben gehörte, die wenigen Wanderer und Jäger, die sich auf das Gelände wagten, aufzuspüren und zurückzuschicken. – Und jetzt war er leicht angesäuert, weil Jeff dieses Insekt nicht aus dem Fenster warf. Wie konnte ein Mensch, der sich Tag für Tag in der freien Natur aufhielt, etwas dagegen haben, dass dieses tote Insekt in seinem Wagen war?
Jeff verstand es nicht und im Moment war es ihm auch ziemlich egal. Er hatte dieses Vieh für Shereen eingepackt und sie würde es, verdammt nochmal, auch kriegen! Außerdem hatte er gleich die Kerze an seinem Roller zu wechseln, und er wusste nicht, wo der Kerzenschlüssel war. Also lehnte er sich zurück und dachte angestrengt nach, wann und wo er ihn zuletzt gehabt hatte.
Als sein Vater den Suburban in die Wohnstraße lenkte, war Jeff sich ziemlich sicher, dass der Schlüssel in der Garage unter ein paar Putzlappen lag. Ganz in Gedanken hatte er gar nicht gemerkt, wie nahe sie schon am Haus waren. Jetzt, wo es so überraschend vor ihm auftauchte, sah er erst wieder, wie geräumig es wirkte. Jeff hatte sich so schnell an das Gute gewöhnt, dass er sich manchmal bewusst vor Augen rufen musste, wie es früher gewesen war.
Die Army hatte Captain O´Bannion und seiner Familie zwar auch Häuser in den verschiedenen Garnisonen zur Verfügung gestellt, aber die waren immer zu eng gewesen, um wirklich gemütlich zu sein. Das hier war dagegen ein wirklich tolles Haus mit einer Doppelgarage und reichlich Platz rundum. – Nichts Besonderes, hier in dem Viertel, aber Jeff kam es manchmal so vor, als sei das hier der Gipfel von allem, was man je erreichen konnte. Die engen Wohnungen, der Lärm der Exerzierplätze, das Oliv der Uniformen und der Fahrzeuge in den Garnisonsstädten, das war alles so weit weg, als habe er es auf einem anderen Planeten erlebt. Sie hatten es geschafft! Sie waren der Enge und der ständigen Kontrolle entkommen, und plötzlich durchströmte ihn ein Glücksgefühl, wie er es nur ganz selten erlebte.
Nachdem sie die hungrigen Zwillinge versorgt und zu Bett gebracht hatten, machten Jeff und sein Vater sich ein paar Sandwiches und aßen sie auf der Terrasse hinter dem Haus. Anschließend hätte Jeff gern ein paar Runden im Pool gedreht, aber da es so etwas hier nicht gab, verzichtete er eben darauf. Seufzend machte er sich daran, den Motorroller wieder fahrbereit zu machen, und als auch das erledigt war, holte er seine Tasche aus dem Flur und ging auf sein Zimmer.
Eine Klimaanlage gab es nur im Erdgeschoss und hier oben unter dem Dach war es ziemlich warm, aber das störte Jeff nicht weiter. Gut gelaunt fischte er den schmalen Zündkerzenkarton aus der Tasche, schüttelte ihn ein wenig, hielt ihn ans Ohr und öffnete ihn erst dann vorsichtig. Nichts bewegte sich darin. Das Tier war tot, genau wie er es vermutet hatte. Einen Moment lang dachte Jeff daran, die Schachtel einfach in Shereens Zimmer auf den Schreibtisch zu stellen, aber dann hatte er eine bessere Idee:
Vor über einem Jahr hatte Jeff zum Valentinstag von einem Mädchen in Fort Worth eine kleine Schmuckschachtel mit lauter Herzchen darauf geschenkt bekommen. Für ihn war das Ganze eher peinlich gewesen, denn das Mädchen hatte ihm das Ding in aller Öffentlichkeit mitten auf dem Schulhof überreicht – und zwar unverpackt und mit einem Liebesgedicht darin. Da es eigentlich ein sehr nettes Mädchen war, hatte Jeff nur den Zettel mit dem Gedicht verschwinden lassen und die Schachtel aufgehoben. Bestimmt hundertmal hatte er sie schon zur Seite geschoben, wenn sie im Weg war. Eine richtige Verwendungsmöglichkeit hatte er nämlich nie dafür gefunden, und das war jetzt mal eine Chance, das Ding auf die elegante Art loszuwerden. Also schnappte er sich die Schachtel, klappte den Deckel auf und ließ das Insekt aus dem Karton sachte hineingleiten. Natürlich fiel es wieder auf den Rücken und der blassgraue Bauch mit den stecknadeldünnen Beinen, die in die Höhe ragten, war nun wirklich kein schöner Anblick.
Jeff schnaufte unwillig. Wenn er schon bereit war, seiner Schwester eine Super-Herzchenschachtel mit einem Super-Insekt darin zu schenken, dann sollte das Ganze auch einigermaßen was hermachen. Ein paar Schubser mit der Spitze eines Kugelschreibers brachte das tote Tier wieder auf die Beine und in die richtige Position in der Mitte der Schachtel. Jetzt sah es so richtig lebensecht und eklig aus.
Zufrieden mit seinem Werk wollte Jeff den Deckel gerade zuklappen, als ihm etwas auffiel: Er zog die Augenbrauen zusammen und neigte den Kopf tief über die Schachtel. Irgendetwas war ihm von vornherein an dem Tier komisch vorgekommen, von seiner ungewöhnlichen Größe und seiner widerlich grauen Farbe mal abgesehen. Jetzt aber, wo es auf dem Boden der Schachtel hockte, da konnte Jeff erkennen, was an diesem Tier nicht stimmte: Es hatte zu viele Beine!
‚Insekten haben sechs Beine‘, hatte Jeff mal im Bio-Unterricht gelernt, daran erinnerte er sich mit absoluter Gewissheit und auch daran, dass Spinnen acht Beine haben und nicht zu den Insekten gerechnet werden. Dieses Tier hier hatte aber acht Beine, die unter dem toten, kleinen Körper hervorragten. Acht Beine und vier Fühler vorne am Kopf, die es insgesamt fast wie einen Tausendfüßler mit Flügeln aussehen ließen.
Jeff schüttelte den Kopf. Wenn man den Bio-Lehrern trauen konnte, dann hatte er hier etwas vor sich, das es überhaupt nicht geben konnte. So etwas wie eine geflügelte Spinne war im Baukasten der Natur angeblich nicht drin.
Einen Moment lang spielte Jeff mit dem Gedanken, das Insekt zu behalten und morgen mit zur Schule zu nehmen, aber versprochen war versprochen, auch, wenn Shereen nichts davon wusste. Wenn es sich wirklich um ein ganz besonderes Tier handelte, dann wollte er die Lorbeeren dafür gern ihr überlassen.
Er besah sich den kleinen Kadaver noch einmal gründlich: Grundfarbe Grau, ein hornissenartiger Körper, ledrig wirkende Flügel, wie die eines großen Nachtfalters geformt und vier Beinpaare. – Also immer noch ganz und gar eindeutig acht Beine!
Plötzlich ging ein winziger Ruck durch das Tier und Jeffs Kopf zuckte zurück. Einen Moment lang dachte er, er habe sich getäuscht und das kleine Monster sei doch noch lebendig. Das war aber nicht so, wie er gleich darauf erleichtert feststellte. Es war immer noch ganz und gar tot, nur die Beine hatten auf einer Seite nachgegeben und standen jetzt nach außen ab. Gleichzeitig bemerkte Jeff einen matten Schimmer auf dem kleinen, toten Körper, so, als sei ein dünner Feuchtigkeitsfilm darauf. Der war ihm vorher nicht aufgefallen, aber schließlich besah er sich seinen Fund jetzt zum ersten Mal gründlich. Irgendwie sah das Biest mit diesem feuchten Glanz auf dem Leib noch ekliger aus, als vorher und zufrieden nahm Jeff die Schachtel auf, um sie in Shereens Zimmer zu balancieren.
Nachdem er die Herzchenschachtel in der Mitte von Shereens Schreibtisch platziert hatte, riss er sich ein post-it vom Stapel herunter, schrieb seiner Schwester einen kleinen Gruß darauf und klebte es an den offenen Deckel.
So, das war erledigt! Jeff trat zur Tür, drehte sich um und besah sich zufrieden sein Werk. - Vielleicht bekam Shereen sogar für die Entdeckung einer neuen Spezies den Nobelpreis. Mehr konnte man ja nun wirklich nicht tun, um ein guter Bruder zu sein.
Ein Blick auf die Uhr sagte Jeff, dass bis zum Abendessen noch reichlich Zeit blieb, ein paar Sachen für die Schule zu erledigen. In Anbetracht der Tatsache, dass morgen der letzte Schultag vor den Sommerferien war, beschäftigte er sich allerdings lieber gut anderthalb Stunden lang mit ein paar Computerprospekten. – Irgendwo musste das Geld schließlich hin, das er demnächst in seinem Ferienjob bei ‚Jonnys eggs & more‘ verdienen würde, und ein neuer Computer war schon lange fällig.
Irgendwann rumorte etwas unten im Haus und Jeff stellte mit halbem Ohr fest, dass seine Mutter zurückgekommen war. Er rieb die Fingerspitzen seiner rechten Hand an dem rauen