Kurzgeschichten. Gisela Schaefer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gisela Schaefer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738068290
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bauen konnte, nur um ein paar Wochen oder Monate seine Ruhe zu haben. Es musste etwas Grundsätzlicheres sein, etwas Dauerhaftes, keine Eintagsfliege. Als er lange genug nachgedacht hatte, wusste er, wie er vorgehen wollte, um sein Ziel zu erreichen.

      Aber zunächst war Marie noch abwechselnd im Luftblasen-Universum oder im Korallenmeer glücklich und zufrieden. Als ihr dann irgendwann doch ihr dritter Wunsch wieder einfiel, brauchte sie nicht lange zu warten - Thilo war gerüstet.

      „Hallo Marie, ich hab gehört, du willst dich mit mir unterhalten,“ sagte Trulle die Eule eines Nachmittags wie aus heiterem Himmel.

      Marie wär vor Schreck fast vom Stuhl gefallen. Sie sprang auf und wusste nicht so recht, was sie tun sollte, zu groß war der Schock.

      Da fuhr Trulle auch schon fort: „Wenn es dir damit Ernst ist, musst du drei Regeln beachten:

      Regel Nummer 1: Ich spreche nur, wenn ich es will. Also laber mir nicht die Ohren voll um mich umzustimmen.

      Regel Nummer 2: Von unseren Gesprächen darfst du absolut niemandem erzählen … es muss ein Geheimnis bleiben zwischen uns.

      Regel Nummer 3: Tatsch mich nicht an, während ich mit dir spreche, das mag ich nicht.

      Wenn du die Regeln nicht befolgst, werde ich nie wieder ein Wort zu dir sagen, hast du das verstanden?“

      „Ja,“ nickte Marie atemlos.

      „Gut … na dann … was willst du wissen?“

      Marie war normalerweise nicht um Fragen verlegen, aber in diesem Augenblick fiel ihr partout nichts ein, sie starrte Trulle nur unverwandt an.

      „Du kannst mir auch was erzählen … wie war’s denn in der Schule heute?“

      „Geht so,“ maulte sie, „wir müssen einen Aufsatz schreiben.“

      „Klingt nicht so, als wenn’s dir Spaß macht.“

      „Tut es auch nicht.“

      „Warum?“

      „Weil Frau Kaufmann immer so blöde Aufsatzthemen aufgibt. ‚Mein schönstes Geschenk

      zu Weihnachten‘ … das kann ich in einem Satz sagen: Mein schönstes Geschenk war eine Barbiepuppe mit rosa Abendkleid von Tante Hedwig. Oder ‚Mein schönstes Erlebnis im Urlaub‘! Ich hab am Strand eine große, weiße Muschel gefunden … fertig. Aber ich soll drei Seiten voll schreiben … das kann ich nicht.“

      „Natürlich kannst du, Marie. Lektion 1: Gebrauch deine Phantasie! Wenn du meinst, dass die Geschichte, die du erlebt hast, zu einfach ist, dann schmücke sie aus. Ich will dir ein Beispiel geben: Nehmen wir die Muschel. Beschreib einen Sonnenaufgang am Strand und

      wie die Fischer in ihren Booten heimkehren und dir zuwinken. Du siehst einen Delphin springen oder die Fontäne eines Wals hoch aufspritzen. Möwen segeln über deinem Kopf, sie kreischen und zanken sich um einen Fisch. Wellen spülen leise gurgelnd an den Strand, weichen wieder zurück und kleine Luftbläschen bilden sich im Sand. Ein Felsen ragt ins Wasser hinein und du siehst undeutlich etwas Weißes aufblitzen jedes Mal dann, wenn das Wasser sich zurückzieht. Neugierig watest du durchs Wasser, wirst von einer anrollenden Welle bis zu den Haaren nassgespritzt und fast umgeworfen. Du bückst dich und findest … eine große weiße Muschel, wie die von der Tankstelle, mit gleichmäßigen, strahlenförmig angeordneten Rillen. Natürlich ist das nur ein Beispiel, du könntest es auch ganz anders erzählen.“

      „Ist aber gelogen!“

      „Ach Marie, deiner Lehrerin geht es doch darum, dass du lebendig und spannend erzählen kannst, dass du einen großen Wortschatz zur Verfügung hast. Okay … wenn dich wirklich ein schlechtes Gewissen plagt, dann schreibst du eben unter den Aufsatz, dass du ein klein wenig übertrieben hast.“

      „Und wie kriege ich so viel Phantasie?“

      „Die hast du längst in dir drin. Das Geheimnis ist, dass du dich in den Augenblick hineinversetzen musst. Schließ mal die Augen und denk ans Meer, an nichts anderes … was siehst du, was hörst und riechst du?“

      „Es rauscht.“

      „Gut, weiter!“

      „Ich sehe Kinder, die Sandburgen bauen und es riecht salzig.“

      „Na also, klappt doch. Wenn du eine Geschichte schreibst, musst du dich in sie hineinversetzen, sie erleben … entweder, indem du dich genau erinnerst, oder indem du

      phantasierst, wie es sein könnte. Oh! So spät schon! Ich muss los, leb wohl Marie, bis

      zum nächsten Mal.“

      „Wann kommst du wieder,“ fragte sie noch, aber Trulle gab keine Antwort mehr.

      Marie hatte vollstes Vertrauen in die Weisheit ihres Eulen-Männchens und befolgte seine Ratschläge. So war sie nicht allzu überrascht, als sie mühelos drei Seiten ihres Heftes füllte. Untendrunter schrieb sie: „Dies ist eine wahre Geschichte, die ich etwas ausgeschmückt habe“. Sie durfte ihren Aufsatz vor der Klasse vorlesen, was eine besondere Auszeichnung ist und niemand kam auf die Idee, sie für eine Lügnerin zu halten.

      Eine Weile nach Lektion 1 bemerkte Thilo, wie Marie Trulle immer öfter erwartungsvoll anschaute, ohne jedoch ein Wort zu verlieren – es war offensichtlich, dass sie sich eisern an Regel Nr. 1 hielt, obwohl sie, das war ebenfalls offensichtlich, ein Anliegen hatte.

      „Hi Marie!“

      „Oh, hallo Trulle, bin ich froh, dass du wieder da bist.“

      „Und? Wie lief es mit deinem Aufsatz?“

      „Das glaubst du nicht,“ sprudelte sie hervor, „ich hab schon zwei geschrieben, drei und vier Seiten lang, und in beiden habe ich eine Eins bekommen!“

      „Ich bin platt,“ sagte Trulle, „du hast meine Erwartungen weit übertroffen. Wie geht’s dir sonst? Täusche ich mich oder bist du ein klein wenig verstimmt?“

      Marie sah überrascht auf. „Ach,“ druckste sie herum und verdrehte ihre Finger, „es ist nur, weil Bettina so eine blöde Zicke geworden ist.“

      „Das sind harte Worte!“

      „Ja, und ich kann sie überhaupt nicht mehr leiden.“

      „Das wär schade, sie ist doch deine beste Freundin. Was macht sie denn so Schlimmes?“

      „Sie ist dauernd frech zu mir. Sie sagt, meine Aufsätze wären gar nicht so toll und Barbie sähe albern aus in ihrem altmodischen rosa Abendkleid, und spielen will sie auch nicht mehr mit mir.“

      „Warst du auch frech zu ihr?“

      „Bis jetzt nicht, aber bald!“

      „Dann frage ich mich, warum sie zickig geworden ist … wenn du ihr nichts getan hast, muss es einen anderen Grund geben.“

      „Ach, sie ist nur neidisch.“

      „Mhm, kann schon sein … vielleicht aber auch nicht. Ich meine, vielleicht sieht es nur so aus. Marie, Lektion Nummer 2: Gebrauche deinen Verstand.“

      „Was meinst du damit?“

      „Versuche, Bettina zu verstehen statt sie einfach zu verurteilen. Es ist möglich, dass sie diese Dinge nur tut oder sagt, weil sie selber Kummer und Sorgen hat. Hab Geduld und bleib freundlich, so gewinnst du ihr Vertrauen. Und bei Gelegenheit fragst du sie, was sie bedrückt. Wie die Zeit vergeht … mach’s gut, Marie, bis demnächst mal.“

      Marie überlegte – versuchen konnte sie es ja. Also ließ sie sich nicht weiter ärgern durch Bettinas ruppiges Benehmen, sondern überhörte es einfach und blieb gleichbleibend freundlich. Eines Tages, als sie sich wieder unausstehlich benommen hatte, sah Marie sie nur traurig und fragend an. Da traten Bettina plötzlich Tränen in die Augen und sie fing leise an zu schluchzen. Marie, erschrocken über diesen unerwarteten Gefühlsausbruch, legte einen Arm um sie. „Warum weinst du denn?“

      Bettina