Die Zweitreisenden. Urs Rauscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Rauscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738035810
Скачать книгу
und rief ihn an. Das Ganze ging so weit, dass sie irgendwann vor ihrer Villa aufkreuzte und ein Theater machte, das die Nachbarn auf den Plan rief. Sie konnten sich keine Aufmerksamkeit leisten. Die Nachbarschaft war empfindlich, was die Menschen hier anging. Sie hatten sich bei dem Verkäufer der Villa als schwules Modedesigner-Pärchen ausgeben müssen, damit sie nicht in Verdacht gerieten, eine WG zu führen. Erst vor einer Woche waren zwei Türken auf der Straße erschossen worden. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Aber es war klar, dass es der private Sicherheitsdienst einer der schwerreichen Unternehmer war, die hier lebten. Die Tat sollte abschreckende Wirkung haben. Ausländer oder solche Menschen, die wie Ausländer aussahen, trauten sich nicht mehr in dieses Viertel. Die farbigen Fußballspieler von Hertha BSC, die hier ihre Luxusimmobilie hatten, fuhren nur noch mit gepanzerten Autos durch die Straßen.

      Es war klar: Dass man sie vertreiben würde, wenn ihr Luxus-Lotterleben herauskommen würde. Der hier ansässige Geldadel würde Mittel und Wege finden, sie rauszuekeln. Diskretion war in dieser Gegend oberstes Gebot. Was innerhalb der Häuser geschah, war Privatsache, aber sobald etwas im Garten vorfiel, war es Teil des öffentlichen Lebens, und dort wurden Abweichungen gnadenlos sanktioniert. Sie wollten nicht schuld daran sein, dass eine junge, stark verliebte Studentin auf dem Bürgersteig ihr Leben ließ, nur weil ein paar Security-Leute sie als dem Viertel nicht angemessen beurteilten.

      Sie hatten so laut Pro Evolution Soccer gespielt, dass sie das Klingeln und Schreien nicht gleich gehört hatten, dann aber zogen sie das Mädchen schnell ins Innere ihres Anwesens. Dort versuchten sie, sie zu beruhigen. Sie sagte, sie könne nicht mehr ohne Martin leben. Sie habe sich bis über beide Ohren in ihn verliebt. Ihre hellbraunen Löckchen hatte sie zu einem klassischen Turm hochgesteckt und Benjamin hatte gute Lust, auf der Stelle mit ihr zu schlafen, obwohl er an diesem Tag noch nicht einmal Geilheit verspürt hatte. Martin konnte sich gar nicht mehr an die Kleine erinnern. Sie musste bei einem seiner größeren fleischlichen Verknotungen dabei gewesen sein, sagte er sich. Als er ihr sein schlechtes Gedächtnis gestand, sagte sie, sie sei diejenige gewesen, die an jenem Abend am meisten Koks gezogen habe. Daraufhin antwortete Martin, mehr Koks als er könne sie nicht gezogen haben, ansonsten achte er nicht auf den Konsum der einzelnen, nur darauf, dass keines der Mädchen vollkommen nüchtern seiner schweren körperlichen Arbeit nachgehen müsse.

      Sie schien verwirrt zu sein, weil er all ihre Liebesgeständnisse mit pingeligen Argumenten niederbügelte, schließlich entschloss sie sich zum letzten Schritt. Sie machte sich nackt.

      Doch statt sich auf ihn zu werfen oder sich an ihn zu schmiegen, zeigte sie ihm ihre neueste Errungenschaft: Ihr Rücken zierte ein riesiges tätowiertes Porträt von Martin, dass sehr schmeichelhaft war, wie Benjamin meinte. Sie riefen ein Taxi und steckten sie rein.

      Obwohl es unwahrscheinlich war, dass das Mädchen mit diesem Tattoo weiter bei der Sexualagentur arbeiten würde, wechselten sie ihren Anbieter. Danach waren sie noch unfreundlicher zu ihren Dienstleisterinnen. Alles musste auf den rein körperlichen Austausch beschränkt bleiben. Sie konnten sich immer noch verlieben und heiraten, wenn ihnen das Geld ausgegangen war. Solange dies noch nicht der Fall war, gab es keinen Anlass, nicht alleine einzuschlafen und aufzuwachen. Sie hatten zwei riesige Badewannen, zwei Saunen, in jedem ihrer Zimmer eine Dusche. Nichts davon wollten sie mehr teilen. Die Freiheit war einfach zu köstlich.

      „Also, was machen wir jetzt?“, fragte Benjamin, als sie bei gedimmtem Licht auf dem Sofa saßen und das elektrische Licht ihres Monster-Kamins heimelig flackerte.

      „Wir müssen an das Schreiben ran“, ersann Martin eine Strategie. „Wenn wir den Vertrag haben, führt keine Spur mehr zu uns.“

      Benjamin nippte an seinem Single-Malt Whiskey, der schlappe 300 Euro gekostet hatte. „Oder wir zerstören die Maschine. Dann ist das Schreiben wertlos. Wenn es keine Maschine gibt, kann uns nichts nachgewiesen werden.“

      Martin zog eine Line Koks vom Tisch. „Hmm. Das Problem ist nur, dass sie die Maschine wahrscheinlich längst gefunden haben. Was taucht leichter auf, ein riesiges Gerät im Keller oder ein Blatt Papier?“

      Auch Benjamin beugte sich vor, um den Staubsauger zu machen. „Da könntest du Recht haben. Wenn jemand geredet hat, dann weiß die Polizei auch, wo die Arbeitslosen gelandet sind. Es werden sich Spuren von dem Gerät finden. Bis man aber die Papiere durchforstet hat, die in dem Laden lagern, braucht man Monate.“

      „So sieht’s aus“, sagte Martin und stöhnte auf, weil sich sein Rücken wieder bemerkbar machte.

      „Wir wissen ja jetzt, wo wir suchen müssen“, merkte Benjamin an.

      „Vorausgesetzt, sie haben den Vertrag in genau dem Gebäude archiviert.“

      „Warum nicht? Sie haben nur aus dieser Zweigestelle verschickt. Die Kandidaten aus den anderen Zweigstellen wurden alle nach Kreuzberg gebracht. Jedenfalls hieß es im Bericht im TV, dass alle Verschwundenen dort zuletzt gesehen wurden. Dort scheint die Zentrale der Machenschaften zu sein. Dort sind sogar Leute aus Bielefeld gelandet.“

      „Wie das passiert ist, ist mir immer noch rätselhaft.“

      „Ja. Das ist es. Aber es kann uns egal sein. Morgen Nacht sollten wir am besten da rein. Sonst könnte es schon zu spät sein.“

      „Und wie machen wir das?“

      „Wir kennen doch den Weg.“ Benjamin lehnte sich zurück.

      „Ja, vielleicht“, wandte Martin ein. „Aber der Typ wird uns nicht nochmal reinlassen. Wir müssen einen anderen Weg aufs Dach finden.“

      Mit einem Mal grinste Benjamin. „Nee. Müssen wir nicht, Matti.“

      Martin blickte ihn forschend an. „Warum?“

      „Was?“, fragte Benjamin und sein Grinsen wurde noch breiter. „Passiert, wenn wir einfach den Mann entfernen? Häh?“

      „Wie meinst du das?“

      Benjamin grinste ihn ohne Unterlass an.

      Martin ging plötzlich ein Licht auf. „Geile Idee. Der hat die längste Zeit dort gelebt!“

      „Bleibt nur die Kündigungsfrist“, schränkte Benjamin ein. Sein Gesicht war nun etwas weniger heiter als noch vor Sekunden, die gestylten Haare standen ihm zu Berge. „Selbst wenn wir die Wohnung morgen kaufen, werden wir die Mieter nicht sofort los.“

      Martin nickte nachdenklich. Dann kam ihm blitzartig ein Gedanke: „Was, wenn wir ihn nicht mit Zwang rausbekommen, sondern mit Belohnung? Wir können ihm ein Angebot machen, dass er nicht ablehnen kann.“

      „Dann brauchen wir auch nicht das ganze Haus zu kaufen…“

      „…sondern nur eine nette neue Wohnung für unseren Freund Klomann. Und wir müssen ihm ein Umzugsunternehmen mieten.“

      Das Koks spielte Rugby mit Benjamins Hirn. Er hätte Bäume ausreißen können. Zunehmend hippeliger rutschte er auf dem Sofa herum. Bei Martin löste das weiße Pulver einen Sturm der Gedanken aus, bei dem der Plan des Wohnungskaufs sich an einem Baum festhalten musste, um in diesem Wirbelwind nicht weggeweht zu werden.

      Nach einer Weile waren sie sich sicher, dass sie noch weitergesprochen und den Plan vollständig ausgearbeitet hatten, aber sie mussten feststellen, dass dies nicht der Fall war. Sie hatten nur dagesessen und den Stoff auf sich wirken lassen.

      „Okay. Okay“, sagte Benjamin. „Lass uns nachdenken, Matti.“

      „Ja, sagte Martin. „Diesmal klappt es!“

      „Womit?“

      „Mit dem Nachdenken.“

      Schließlich waren Zielsetzung und Ablauf ihres Vorhabens ausgereift. Sie schalteten ihren Anwalt ein. Über Google Maps hatten sie die genaue Adresse der Zielwohnung ausfindig gemacht. In seinem Drogenrausch erinnerte sich Martin sogar noch an den Namen auf dem Klingelschild des Mannes, der ihnen aufgemacht hatte. Diesem sollte der Anwalt ein unausschlagbares Angebot machen. Dafür musste er umgehend ein Apartment auftreiben, das unbezweifelbar besser war als die Wohnung, die die beiden Freunde dem Familienvater abluchsen