„Ferengi, ferengi“, murmelte der Alte abschätzig.
„Ferengi?“, fragte Martin und Benjamins Gesichtsausdruck besagte, dass er diese Frage besser nicht gestellt hätte.
„Ferengi, kalaki?“, fragte einer der jungen Männer den Alten.
„Ferengi“, bestätigte Benjamin mit Nachdruck und zog die Blicke auf sich. Er wusste nicht, was das Wort bedeuten sollte, aber so würden die Männer glauben, sie wüssten, mit wem sie es zu tun hatten.
Die Männer brummten verständig. Ihre Mienen spielten zwischen Erleichterung und Angst. Der Alte rief sie zur Ruhe.
Er überlegte, holte Luft, dann buchstabierte er: „Wosasch mersees sao Purtugesasch?“ Er hatte große Mühe mit der Aussprache.
Martin vermutete, dass das letzte Wort das Hauptwort war.
Benjamin vermutete, dass der Mann eine Fremdsprache gesprochen hatte und das letzte Wort das entscheidende gewesen war: „Purtugesasch“, sagte er und nickte. „Ferengi Purtugesasch.“
Jetzt halten sie uns für Ungarn, sagte sich Martin.
Sie sehen zwar nicht ganz so aus wie Russen, sagte sich Benjamin. Aber irgendwoher können sie deren Sprache.
„Hmm“, ließ der Alte verlauten. „Ne bar der ki Gua ne pri?“
Benjamin und Martin schüttelten den Kopf.
„Martin and Benjamin. No Russia“, stellte Benjamin sie vor.
„.Ferenc Puskas. But no Hungary“, fügte Martin eilig an.
„Ferengi Purtugesasch Germany“, verdeutlichte Benjamin.
„Scheiße. Gut. Ballack. Schweinsteiger“, warf Martin hinterher.
Begriffsstutzigkeit allerorten.
„Gulasch?“, fragte Martin.
Gulag, dachte Benjamin.
Die jungen Männer tuschelten.
Der Alte spuckte aus und machte eine Handbewegung, dass sie ihm folgen sollten. Er fuhr seine Begleiter an, weil diese immer noch herumstanden wie die Salzsäulen.
Man ließ ihnen gerade noch die Zeit, sich wieder zu bekleiden, dann wurde man etwas ruppig mit ihnen und zerrte sie zum Boot. Es war immer noch nicht entschieden, ob sie Gäste oder Gefangene dieser Fischer sein würden. Oder vielleicht war es das doch.
Obwohl sie ihre Hosen hochgekrempelt hatten, waren diese wieder Klatschnass. Die Schuhe hielten sie in ihren Händen. Benjamin hatte es geschafft, das Koks beim Waten über Wasser zu halten. Wie ein Soldat sein Gewehr.
Auf dem schlichten Boot fanden sechs Leute gerade so Platz. Man hatte die Netze eingeholt und am Bug standen zwei Eimer mit zappelnden Fischen. Offenbar war man auf dem Heimweg gewesen.
Gleich würden sie also in ihr Dorf kommen. Dort würde sich alles klären. Zumindest für sie beide.
Die zwei jüngsten Kerle, deren Schnurrbärte kaum mehr als ein Flaum waren, ließen sie keine Sekunde aus den Augen. Benjamin bot ihnen Koks an. Verlegen lachten sie ihn aus. Er gönnte sich eine Fingerspitze.
Die anderen Beiden ruderten, der Alte saß vorne und gab die Kommandos. Die vier Passagiere störten sich nicht daran, dass es so langsam ging. Ab und zu klatschte sich einer der Jungen Fahrwasser ins Gesicht. Benjamin und Martin taten es ihm bald nach. Noch war ihre Haut noch nicht ganz so dunkel wie die der Eingeborenen und deshalb sonnenempfindlich. Sie brauchte ständige Kühlung.
Die Küste war fantastisch. Auf dem Türkisblauen Wasser glitzerten die Sonnenstrahlen. Ein Sandstrand reihte sich an den anderen, dahinter schloss dichter Urwaldwuchs an und in der Ferne erhoben sich Berge. Ein leichter Dunst lag über dem kurvigen Horizont. Die Sonne ließ alles in den kräftigsten Farben erstrahlen. Vielleicht, dachten sich die beiden, ist es gar nicht so schlecht, wenn die Zeitmaschine nicht mehr funktioniert.
Die Jungen starrten. Martin und Benjamin starrten zurück.
„Das sind keine Perser“, sagte Martin.
„Nein“, sagte Benjamin.
„Das sind auch keine Mongolen.“
„Nein.“
„Was sind sie dann?“
„Ganz normale Idioten.“
Das Boot schaukelte ziemlich auf den Wellen, vor allem, wenn sie Landzungen zwischen Sichelbuchten umfuhren und deshalb weiter aufs Meer hinaus gelangten. Benjamin wurde etwas schlecht und er ergab sich ins Wasser. Sogleich sprudelte ein Schwarm Fische an die Oberfläche, um sich die Leckereien zu sichern.
Eine größere Welle erfasste das Boot und sie mussten sich an der Reling festklammern. Die Jungen lachten über ihr Getue.
Gottseidank ist es kein Einbaum, dachte Martin. Ihre Technologie ist weiter entwickelt als ihre Gastfreundschaft.
Gottseidank ist das Boot kein ausgehöhlter Stamm, dachte Benjamin. Wir sind also nicht mehr in der Steinzeit.
Einer der Jungen schien etwas zur erblicken. Er sagte etwas zum Alten. Die Ruderer hielten inne. Alle sahen sie in Richtung des Meeres. Benjamin und Martin drehten ihre Hälse. Ein Segelschiff mit breitem Bauch und weißen Segeln kreuzte in zweihundert Metern. Auf die Segel waren große rote Kreuze gemalt.
Eine Ambulanz zu Schiff, dachte Benjamin.
Christliche Fanatiker, dachte Martin.
Der sah zu ihnen herüber und deutete auf das Schiff. Dann wollte er anscheinend, dass sie etwas verstanden. „Purtu“, mühte sich mit dem Wort ab. „Gesesch“, krächzte er. Er sah sie erwartungsvoll an.
Die beiden Freunde nickten verständig. „Ferengi“, sagten sie.
Die berühmte russische Südmeerflotte, dachte Benjamin.
Die Ungarn, dachte Martin. Das große Seefahrervolk.
Das Schiff hielt geradewegs auf die Küste zu. Die beiden Freunde konnten weder einen Hafen, noch eine Festung sehen. Sie konnten sich kaum vorstellen, dass es in Nähe des Strandes ankern würde. Was auch immer die Ungarn oder Russen in diesen Gewässern vorhatten, sie hatten offenbar Kontakt zu den Einheimischen. Sie trieben Handel oder unterjochten die armen Fischer, um ihnen das Christentum oder die Segnungen der Ersten Hilfe näher zu bringen. Schiffe wie diese hatten Martin und Benjamin schon in diversen Piratenfilmen gesehen.
Das Schiff verschwand hinter einer hügeligen Landzunge.
Als ihr Boot jedoch die Landzunge ebenfalls umschippert hatte, war das Schiff nicht mehr zu sehen.
Die nächste Stufe der Fata-Morganas, dachte Benjamin.
Zu einer bestimmten Zeit der Menschheitsgeschichte konnten die Menschen zaubern, dachte Martin.
Doch als sie schließlich einen weiteren ins Wasser ragenden Felsvorsprung umschifften, sahen sie das Schiff wieder. Es war tief in eine beeindruckend breite Bucht eingedrungen, in die sie nun auch einbogen. Je weiter sie fuhren, desto klarer wurde ihnen, dass dies keine Bucht war, sondern die Mündung eines Flusses. Eine Kostprobe des Wassers bestätigte es ihnen. Die Bucht teilte sich schließlich. Sie folgten dem Schiff in die linke Mündung.
„Gua, Gua“, sprach der Alte. Es schien, als redete er mit ihnen.
„No Gua“, sagte Martin. „Ferengi Purtugesasch.“
„Ferengi Gua“, erwiderte der Alte vielwissend.
Wie auch immer, dachten die beiden Freunde.
Die Uferböschung war von Gras begrünt und von Bäumen gesäumt, deren Wurzeln direkt ins Wasser ragten. Strände gab es hier kaum noch, dafür erblickten sie kleinere Fischerdörfer, Ansammlungen von wenigen Häusern, in denen Frauen und Kinder ihren Tätigkeiten und Spielen nachgingen. Fischerboote