»Thomas und Heinrich Mann haben hier als Exulanten gewohnt«, sagte ich zu Zouzou und Loulou.
»Viele deutsche Exulanten haben hier nach 1933 gelebt«, erwiderte Sabi Loulou.
»So viel Zauber neben so viel Leid, und soviel Glück der Natur, neben so viel Isoliertheit, Tonton!«
Zouzou überraschte mich mit diesen Sentenzen, mehr noch, sie verwirrten mich vollends. Eine eigenartige Stimmung legte sich auf uns drei. Wir waren ein jeder von uns ausgesprochene Individualisten. Jeder zog sein Leben ab, unbeirrt und auf seine eigene Weise. Und doch waren wir in diesem Augenblick ein Gedanke und ein Gefühl. Wir wussten, dass wir uns aufeinander bedingungslos verlassen konnten. Ein Gefühl das Wirklichkeit geworden war, und für unser Vorhaben auch nötig. Zum Überleben notwendig. Ich dachte in diesem Augenblick an die schönen Sätze, die Kurt Tucholsky geschrieben hatte. „Schön ist Beisammensein. Die Haut friert nicht. Alles ist leise und gut. Das Herz schlägt ruhig.“ In solchen Augenblicken liebte ich die beiden besonders und ich wünschte mir, dass diese Reise nie ein Ende haben möge. Dieses Gefühl könnte bis Mali reichen. Es wurde immer wieder auf grausame Weise, wenn auch nur für kurze Zeit, auf Eis gelegt. Dieses Mal war es der Vorschlag, da wir nun mal in einer alten Fischerstadt waren, eines dieser Fischlokale aufzusuchen, um schleimige eklige Tintenfisch-köpfe oder glitschige Austern zu essen. Und dies bei meinem malträtierten Escorial Grün, Magen.
Es regnete nicht mehr. Die Sonne schien wieder und ein lauer Wind wehte die Küste entlang. Die beiden suchten sich ein Fischlokal, und ich zog mir das blaue Beret Basque von Zouzou über die Ohren. Ich suchte mir einen Platz an der Küste. Steinchen werfend in das Meer, hing ich meinen Gedanken nach. Tobruk, Alexandrien und die Libysche Wüste fielen mir wieder ein.
***
Erinnerungen an Tobruk, Libyen 1942.
Es war schon dunkel als wir den Djebel vor Tobruk erreichten. In Panik schossen wir das italienische Zeltlazarett zusammen. Danach stürmten wir kopflos hinaus in die Libysche Wüste. Jeder für sich alleine. Am anderen Morgen fanden wir uns wieder in einem kleinen Wadi. Wir froren
entsetzlich. Unser "Battle dress“, der aus langen Hosen mit weiten Hosentaschen für die Handgranaten und einem dunklen Pullover bestand, war durchschwitzt und völlig verschmutzt. Die Gesichter hatten wir uns vor den Kampfhandlungen, zur Tarnung mit Ruß, dunkel gefärbt. Die Bartstoppeln drückten sich durch die dünne Schicht aus Ruß und der Schweiß, vermischt mit feinem Pulversand zogen breite Bahnen über das Gesicht. Die Baskenmützen, die wir uns tief in die Stirn zogen, um uns vor der Sonne zu schützen, und die umgehängten Maschinenpistolen, ließen uns aussehen wie eine Horde Wildsäue im Hochmoor.
Am Tage erreichte es Bodentemperaturen von über 70 Grad Celsius, und nachts fiel das Thermometer auf zehn Grad Celsius.
Tim Johnson, Walt Baker, Greg Harris, Benny Moore, und ich, mit dem Alias, John Walker, waren die wenige Überlebenden der Desert Group. Sie nannten mich "Bottle Jonny“, in Anspielung auf mein Alias "John Walker“, und einer bekannten Whisky-Marke. Dabei trank ich doch gar keinen Whisky, oder nur selten.
Diesem Schreibstubenhengst, der mir das englische Soldbuch mit diesen komischen Namen verpasste, sollte die Schwindsucht heimsuchen, dachte ich mir immer wieder.
Immerhin war ich nur Gast bei den Deserts, und Gäste sollten zuvorkommend behandelt werden. Den Jungs war das egal. Sie behandelten mich wie ein dazu gehörender Soldat. Folglich musste ich das tun, was in Kampf- und Partisaneneinsätzen so üblich ist.
Wir gehörten zum Rest aus John Haseldens "Long Range Desert Group“. Wir und die "Jock"-Kolonnen, die Kampfgruppen des Brigadiers Jock Campell, waren die Gegenspieler der deutschen "Brandenburger“.
Weder die deutschen Brandenburger noch die Long Range Deserts, und schon gar nicht die "Jock"-Kolonnen, waren ein Verein für Betschwestern.
Es gab nur einen Befehl und der hieß: "In den Rücken des Feindes und alles angreifen, was euch unter die Augen kommt! Keine Gefangene! "
Nachdem wir uns in unserem kleinen Versteck erholt hatten, zogen wir in südlicher Richtung weiter. Der Weg entlang der Küste zur Grenze Libyen-Ägypten war uns zu gefährlich. Die deutschen Truppen beherrschten dieses Gebiet bis weit nach Ägypten hinein. Bis El-Alamain. Uns blieb nur der Weg nach Süden zu den Kufra Oasen, dem Hauptquartier der Long Range Desert Group, und das waren immerhin 1000 Kilometer Luftlinie durch schlimmstes Wüstenterrain. Eben wie ein Teller war die Steinwüste südlich von Tobruk. Weit und breit keine Erhebung. Kein Haus und kein Strauch. Keine Deckung für uns und kein Versteck. Gar nichts. Nur Steine und Sand. Im Eilmarsch rannten wir durch die Einöde. Die deutschen Truppen durchkämmten mit Sicherheit das Gebiet um Tobruk nach versprengten britischen Einheiten. Nach etwa dreißig Kilometer erreichten wir den Wüsten Ort El-'Adem in der Steppe von Marmarika.
Vorsichtig schlichen wir uns an den Ortsrand und fanden Unterschlupf in einer der zahlreichen Häuserruinen. Hier war vor einiger Zeit noch ein Hauptverbandsplatz der deutschen Armee eingerichtet. Wahrscheinlich wurde er inzwischen näher an den Frontverlauf gebracht, in Richtung nach El-Alamain. Wenige gut markierte Zelte waren noch hier. Besser markiert als die italienische Lazarettanlage bei Tobruk, die wir versehentlich zusammenschossen.
El-'Adem schien wie ausgestorben. Ab und zu ein Araber. Sie gingen in unnachahmlichem Stolz und in äußerst aufrechter Haltung über die aufgepflügten Wege. Sie schien das alles nichts anzugehen. Sie wunderten sich nur, dass die verrückten "Inglisis" und "Alemanis" alle diese Strapazen auf sich luden, um sich im fernen Afrika zu massakrieren. Es käme ihnen niemals in den Sinn, sich mit Feinden im fernen Europa Panzerschlachten zu liefern. Die hoch intelligenten Europäer taten dies in Afrika oder sonst wo in der Welt. Die Araber liebten ihr Sprichwort: „Die Intelligenz ist eine goldene Halszierde. Der Verstand aber, ist eine goldene Krone!" Wie Recht sie haben, diese bewundernswerten Araber!
Wir saßen in unserem Versteck, und beobachteten wie eine kleine Gruppe deutscher Soldaten in einem Kübelwagen und einem Krad mit Beiwagen, die Hauptstrasse entlang fuhren, und ein größeres Gebäude ansteuerten. Wir zählten fünf Soldaten. Sie hatten genau das, was wir brauchten um zu den Kufra Oasen zu gelangen. Fahrzeuge! Der Kübelwagen und das Krad wurden von einem Soldat bewacht. Die anderen Soldaten gingen in das Gebäude. Unser Plan sah so aus, dass ich den Soldaten, der das Fahrzeug und das Krad bewachte, ausschalten sollte. Tim Johnson sollte einige Handgranaten in die geöffneten Fenster werfen, und Walt Baker und Greg Harris hätten den Eingang zu erstürmen. Benny Moore sollten den Hinterausgang des Gebäudes sichern. Wir schlichen uns an, und die letzten Meter rannten wir auf das Gebäude los. Die folgenden Szenen spielten sich in einem unwahrscheinlichen Tempo, und mit höchster Präzision ab. Geübt bis zum Abwinken. Ich war als Berichterstatter, der einzige Schwachpunkt in dieser Kette. Noch ehe sich der Soldat in seinem Kübelwagen über das Geschehen ein Bild verschaffen konnte, saß ich auf dem Rücksitz seines offenen Wagen und hielt ihm die MP an den Hals. Meine Magazine waren leer und ich konnte nur auf seine Vernunft hoffen. Es war ein älterer Obergefreiter, und er besaß diese Vernunft. Es bestätigte sich für mich, dass fast alle Soldaten dieses Dienstgrades gewisse Lebens- und Überlebenskünstler seien. Bei den Briten war es ebenso. Wilhelm Oberleitner, mein Gefangener, für den ich mich oft stark machte, wenn die anderen ihn massakrieren wollten, leistete später gute Dienste für uns.
Nach wenigen Minuten war der Überfall erfolgreich beendet. Wir fuhren von El-`Adem über Bir Hacheim in Richtung zu der Oase Gialo. Die Oase Gialo war von italienischen Truppen besetzt. Etwa zwanzig Kilometer östlich von Gialo, genau auf unserem Weg, gab es einen Brunnen, dessen Wasser man lange aufheben konnte. Die Wasserqualität der Oase Gialo war nicht sehr gut und bereits nach drei Tagen verdorben.