»Au, au, au«, jammerte er und rieb sich die Lenden.
Nachdem er sich ausgiebig bemitleidet hatte, ließ er sich in die gut gefüllte Badewanne gleiten und seifte sich von oben bis unten ein. Er las die Gebrauchsanweisung eines nagelneuen Mach-3-Turbo-Nassrasierers und schaffte es doch tatsächlich, sich ohne Schnittverletzungen von seinem Bart zu befreien.
Anschließend verpasste er sich einen eher stümperhaften Haarschnitt, den er auf Theodor Buschs schriftliches Anraten hin mit Gel in Form brachte. Zufrieden nickte Lämpel seinem deutlich gepflegteren Konterfei zu. Dann schleppte er sich zur Wohnzimmercouch, wo er sofort einschlief.
Als er gegen 9 Uhr die Augen aufschlug, wusste er im ersten Moment nicht, ob er noch träumte. Deshalb zwickte er sich in die Nase. Die stechenden Schmerzen überzeugten ihn schlagartig vom Gegenteil. Er rieb die Augen, gähnte wie ein Löwe und schlurfte in die Küche.
In der Nacht hatte er ein Blatt Papier auf dem Ordner abgelegt, das konkrete Handlungsanweisungen für den ersten Tag seines neuen Lebens enthielt. Und diesen von Busch erstellten, detaillierten Aufgabenplan galt es nun gewissenhaft abzuarbeiten.
»1. Frühstücken!«, las er sich selbst vor. Grinsend legte er eine Hand auf seinen knurrenden Magen. »Also auf die Idee wäre ich durchaus von alleine gekommen.«
Sein fürsorglicher Gastgeber hatte perfekte Vorbereitungen getroffen. Der Kühlschrank war von oben bis unten mit Lebensmitteln gefüllt. Lämpel nahm jedes Glas, jeden Becher und jede Tüte in die Hand, studierte fasziniert die Verpackungstexte und reihte die wundersamen Dinge auf dem Küchentisch auf.
Er benötigte einige Minuten, bis er eine Auswahl getroffen hatte. Bis auf abgepacktes Graubrot, Milch, Butter, Pflaumenmus und eingeschweißten Emmentaler wanderten alle anderen Lebensmittel wieder zurück in den Kühlschrank.
Die Gebrauchsanweisung für die Kaffeemaschine verursachte ihm keine ernsthaften Probleme, nur die Sache mit dem elektrischen Strom war ihm äußerst suspekt. Er drückte den roten Knopf und wartete gespannt, was nun passierte. Wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal einen leuchtenden Christbaum bestaunt, beobachtete er mit großen Augen die seltsame Maschine bei ihrer röchelnden und blubbernden Arbeit.
Den Geschmack seiner Lieblingsmarmelade hatte er noch sehr gut aus seinem früheren Leben in Erinnerung. Seine Mutter hatte damals die Früchte mit einem Gemisch aus rohem Zucker und Honig eingekocht. Diese neumodische Premium-Gourmet-Konfitüre war jedoch viel süßer, cremiger und schmeckte auch bedeutend intensiver nach Pflaumen als die, die er vor 150 Jahren verköstigt hatte. Dafür war die Milch weniger fett und wies keine Rahmabsonderung auf. Die Butter wiederum war gelber und streichzarter.
»Von glücklichen irischen Kühen«, murmelte er kopfschüttelnd. »Glückliche Kühe«, wiederholte er und kicherte dabei wie ein pubertierendes Schulmädchen.
Nach dem ausgiebigen und mit einem Tabakpfeifchen gekrönten Frühstück wandte sich Lämpel dem nächsten Tagesordnungspunkt zu: 2. Fernsehen!
Er hatte diesen merkwürdigen, direkt gegenüber der Couch befindlichen Kasten in der Nacht zwar bemerkt, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt.
»Rechts unten befindet sich der Einschaltknopf. Draufdrücken! Grünes Licht muss aufleuchten«, zitierte er die kommandoartigen Bedienhinweise seines Gastgebers.
»Und jetzt?«, fragte Lämpel in die Stille hinein.
Plötzlich fing der merkwürdige Kasten an zu zischen und zu knacken, so als wolle er explodieren. Gleichzeitig flackerten auf der Glasscheibe Gewitterblitze. In schmerzlicher Erinnerung an das auf ihn verübte Sprengstoffattentat hechtete er hinter die Couch.
Aus Richtung des Zauberkastens hörte er menschliche Stimmen. Zitternd wagte er einen ängstlichen Blick über die Rückenlehne. Was er dort auf der Mattscheibe sah, konnte er einfach nicht begreifen. Eine geschlagene Stunde lang saß er reglos auf der Couch und glotzte gebannt in die Flimmerkiste. Doch dann tränten ihm die Augen und er bekam Kopfschmerzen. Er schaltete das Fernsehgerät aus und versuchte die Eindrücke zu verarbeiten.
Die Menschen Anfang des 21. Jahrhunderts sind wunderschön, lachen viel, haben gerade, strahlendweiße Zähne, sind gut gelaunt, ordentlich gekleidet und haben Essen im Überfluss. Sie leben im Paradies, schlussfolgerte er.
Er seufzte ergriffen. Diese Menschen sind bestimmt sehr, sehr glücklich und zufrieden. Und ihre Kinder sehen so nett und schlau aus. Sie zu unterrichten muss das reinste Vergnügen sein.
Sein hungriger Magen meldete sich erneut. Er kehrte in die Küche zurück und wandte sich seinem Tagesplan zu: 3. Mittagessen!, lautete der nächste Punkt auf der Agenda.
Lämpel befolgte die Anweisungen akribisch. Zuerst entnahm er dem Eisfach eine tiefgefrorene Schale, die mit durchsichtigem Papier überzogen war.
»Steam Cuisine, Thai Curry, Chicken mit Basmatireis und Power-Gemüsemix”, las er gleich dreimal hintereinander abgehackt vor, ohne jedoch den Inhalt zu verstehen.
»Das Gerät auf dem Küchenschrank heißt Mikrowelle und wird besonders häufig in Single-Haushalten benutzt. Einfach Tür öffnen, Fertigmenü reinstellen, Tür wieder zu, Knopf drücken, warten, bis die Klingel ertönt.«
Die Wartezeit vertrieb sich Lämpel mit einem weiteren Entspannungspfeifchen. Er hatte sie noch nicht fertiggeraucht, da erklang auch schon der angekündigte Signalton. Er öffnete das Glastürchen, fasste die Schale an – und verbrannte sich die Finger.
»Verdammt und zugenäht«, fluchte er. »Wie kann dieses Essen ohne Feuer nur so heiß werden? Das geht doch überhaupt nicht.«
Er warf der Mikrowelle einen bitterbösen Blick zu. »Was bist du bloß für eine verfluchte Teufelsmaschine«, schimpfte er weiter, während er die Finger unter kaltes Wasser hielt.
Immer noch wütend kostete er sein fernöstliches Mittagessen, aber dieser unbekannte Geschmack vermochte ihn nicht zu überzeugen. Angewidert schob er die heiße Schale beiseite und schmierte sich stattdessen zwei Leberwurstbrote.
Der Rest des Tages stand ganz im Zeichen weiterer autodidaktischer Studien, schließlich sollte Lämpel gut vorbereitet in sein neues Leben starten. Theodor Buschs Aktenordner und die reich bestückte Bibliothek beinhalteten alle dazu erforderlichen Informationen. Darüber hinaus fungierte das Fernsehgerät als Fenster zur modernen Welt.
Wenn Lämpel das Gefühl hatte, in der auf ihn einströmenden Informationsflut zu ertrinken, zog er sich in Buschs Arbeitszimmer zurück, setzte sich in den behaglichen Lesesessel, stopfte sich eine Pfeife und schmökerte im Faust. An Goethes zeitlosem Meisterwerk hatte er sich bereits in seinem früheren Leben fast täglich ergötzt. Wenn er eine Passage gelesen hatte, schob er das Buch zurück an seinen angestammten Platz und strich zärtlich über den Buchrücken.
Am darauffolgenden Morgen weckte ihn kurz vor sieben Uhr ein Geräusch, das er zuvor noch niemals gehört hatte. Er öffnete die Augen, schob die Brille auf die Nase und blickte sich schlaftrunken um. Durch die Vorhangschlitze sickerte das Dämmerlicht des erwachenden Frühlingstages. Gähnend erhob er sich und reckte die steifen Glieder. Anschließend ging er zum Schlafzimmerfenster, hinter dem nach wie vor dieser merkwürdige, intervallartige Lärm tönte. Vorsichtig schob er die schwere Gardine ein Stück zur Seite und spähte durch die Lücke.
Etwa fünfzig Meter von seinem Haus entfernt, hatte sich ein Kleinkind im Auto der Eltern eingeschlossen und die Innenraumüberwachung der Alarmanlage ausgelöst. Der Mann schimpfte wild gestikulierend auf seine Frau ein, während die junge Mutter mit ihrem Sohn herumzeterte. Ein paar Minuten später fand der Spuk ein Ende, denn der Vater hatte den Ersatzschlüssel besorgt.
Mit quietschenden Reifen fuhr die gestresste junge Familie die kleine Nervensäge zu dem nur zweihundert Meter entfernt gelegenen Ganztagskindergarten. Lämpel hatte sich natürlich inzwischen über die modernen Verkehrsmittel und die sonstigen technologischen Innovationen informiert, doch nun hatte er zum ersten Mal mit eigenen Augen solch ein Wunderwerk der Technik bestaunen können. Lämpel zog den Vorhang wieder vor und schlurfte in die Küche.