Lehrer Lämpel lebt!. Bernd Franzinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Franzinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738016796
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deutsche Bildungssystem in den letzten 150 Jahren verändert hat.

      »Und wie …«

      Folge einfach den Pfeilen.

      »Welchen Pfeilen?«

      Lämpel wartete geduldig auf eine Antwort. Doch sein imaginärer Gesprächspartner war verstummt. Mit gekrümmtem Rücken setzte er sich auf die Fersen, krallte seine Finger in den Spalt und hievte sich ruckartig in die Höhe. Der Sargdeckel klappte nach hinten und schlug mit einem dumpfen Geräusch irgendwo dagegen. Nur einen Sekundenbruchteil später flammte grelles Licht auf.

      Reflexartig kniff Lämpel die Lider zusammen und warf die Hände vors Gesicht. Nach ein paar Sekunden öffnete er die Augen, spähte durch die gespreizten Finger. Doch seine Nickelbrille war beschlagen und er sah nichts als eine milchigtrübe Nebelwand.

      Lämpel zog die Brille ab und schaute sich um. Unzweifelhaft befand er sich in einem aus Bruchsandsteinen gemauerten Gewölbekeller. Der fensterlose Raum war mit einer Hobelbank, Werkzeug, Bauholz, Dachziegeln und allem möglichen Gerümpel vollgestopft. Die Gegenstände waren mit einer dicken Staubschicht und Spinnweben überzogen.

      Mit einem kräftigen Zug blähte er die Lungen auf. In diesem Keller roch es ziemlich modrig, trotzdem war die Luft bei weitem frischer und angenehmer als diejenige in seiner eisigen Gruft.

      Er kletterte aus dem Sarg und entdeckte die Pfeile, von denen die ominöse Stimme in seinem Kopf gesprochen hatte. Irgendwer hatte sie im Abstand von zwei Metern mit Kreide auf den Kellerboden gezeichnet.

      Dort, wo er gerade stand, bildete sich in Windeseile eine Wasserpfütze. Ungelenk stampfte er los und hinterließ eine Spur nasser Fußabdrücke. Kraftlos schleppte er sich die Kellertreppe hinauf. Vor der Abschlusstür hielt er inne.

      Was, und vor allem wer, erwartet mich wohl hinter dieser Tür?, überlegte er mit bangem Blick. Was soll ich denn nur antworten, wenn man mich fragt, wer ich bin und wo ich herkomme? Soll ich vielleicht sagen:

      »Guten Tag, ich bin Lehrer Lämpel und habe 150 Jahre lang in Ihrem Keller in einem Eissarg geschlafen.«

      Nervös knetete er sein unter einem Vollbart verstecktes Kinn. Das glaubt mir doch kein Mensch. Die werden mich bestimmt sofort ins Irrenhaus einliefern.

      Du alter Hasenfuß, frotzelte die Stimme in seinem Kopf. Du brauchst keine Angst zu haben, das Haus ist leer.

      Lämpel zögerte noch einen Moment, dann kratzte er allen Mut zusammen und drückte die Metallklinke herunter. Zentimeter um Zentimeter schob er das Türblatt nach vorne. Dann streckte er den Kopf durch den Türspalt und schaute sich vorsichtig um. Der Flur war hell erleuchtet. Er schloss die Augen und horchte konzentriert. Kein Geräusch, nichts, aber auch rein gar nichts war zu hören.

      Auf Zehenspitzen schlich er über knarzende Holzdielen hinweg zur Haustür und blickte nach draußen. Nichts als rabenschwarze Dunkelheit. In der Ferne bellte ein Hund. Lämpel wandte sich um, ging zurück zur Kellertür und folgte den Pfeilen.

      Sie geleiteten ihn in eine gemütlich eingerichtete Küche, vor deren einzigem Fenster die Vorhänge zugezogen waren. Auch dieser Raum wurde von einem sonnenartigen, gleißenden Licht erleuchtet, wie er es noch niemals zuvor gesehen hatte. Zudem entdeckte er Gegenstände, die er nicht kannte und für die er auch keine Namen parat hatte.

      Träume ich das alles?, fragte er sich nun schon zum wiederholten Male. René Descartes hat behauptet, dass niemals Wachen und Träumen nach sicheren Kennzeichen voneinander unterscheidbar seien. Und zwar deshalb, weil die Traumerlebnisse eine Intensität erreichen könnten, die denjenigen im Wachzustand erlebten, gleichkämen.

      Das hat der alte Schlawiner den Vorsokratikern geklaut, monierte der Mann, der behauptete, Wilhelm Busch zu sein.

      Zum Beweis ein Zitat von Heraklit, zweitausend Jahre vor Descartes: ›Es ist immer ein und dasselbe, Lebendiges und Totes, das Wache und Schlafende, Jung und Alt.‹ Wie du siehst, geht doch nichts über eine humanistische Bildung.

      »Die habe ich ebenfalls genossen«, betonte Lämpel.

      Ja, ich weiß. Aber mal was anderes: Meinst du nicht, du solltest endlich deine nassen Kleider und Schuhe ausziehen? Du bibberst ja schlimmer als Schneider Böck, nachdem ihn damals die Gänse aus dem Bach gezogen hatten.

      Erst jetzt wurde Lämpel bewusst, dass er tatsächlich wie Espenlaub zitterte. Ängstlich blickte er sich um.

      Du brauchst dich nicht zu zieren. Ich hab dir doch schon gesagt, dass niemand im Haus ist.

      In der Ecke entdeckte Lämpel einen mit Kleidern und einem Handtuch bestückten Stuhl. Darunter standen dunkle Halbschuhe, in denen schwarze Socken steckten.

      So, und nun marsch, marsch an die Arbeit!, befahl die Stimmen.

      Alles, was du brauchst, um in deinem neuen Leben zurechtzukommen, findest du in dem Ordner auf dem Tisch. Studiere ihn Zeile für Zeile und befolge strikt die darin enthaltenen Anweisungen. Du musst unbedingt alles daransetzen, in deiner neuen Umgebung so wenig wie möglich aufzufallen.

      Lämpel fiel spontan kein anderer Ort ein, an dem er seine triefende, altmodische Bekleidung deponieren konnte. Also legte er Frack, Hose, Hemd, Schnürschuhe und Kniestrümpfe einfach in die Edelstahlspüle. Nun trug er nur noch seine graue Leinenunterwäsche am Körper.

      Auf der Suche nach einem adäquaten Ersatz für seine pitschnasse lange Unterhose durchstöberte er die neuen Sachen, doch er entdeckte lediglich eine Feinripp-Garnitur. Während er ängstlich die Küchentür im Auge behielt, zog er die nasse Unterwäsche aus, trocknete sich geschwind ab und sprang förmlich in die kurze Unterhose. Ansonsten hatte der unbekannte Kleiderspender mit seiner Wahl genau ins Schwarze getroffen, denn Sakko, Hemd, Hose und Schuhe passten wie angegossen.

      In den trockenen Kleidern fühlte sich Lämpel wie neu geboren. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und stolzierte pfeifend durch die Küche. Er fühlte sich rundherum wohl, seine zeitweiligen Ängste hatten sich verflüchtigt, und er war sehr neugierig auf das, was ihn außerhalb dieser vier Wände wohl erwarten würde. Vor einem neben dem Fenster aufgehängten Bild blieb er stehen. Die Fotografie zeigte ein altes Fachwerkhaus.

      Dieses Haus kenne ich doch, sagte er zu sich selbst. Ja, sicher, das ist unzweifelhaft Wilhelm Buschs Elternhaus.

      Nun erinnerte er sich auch wieder an die Haustür mit dem rautenförmigen Fensterchen, den dunklen Dielenboden im Flur und die verzierte Eckvitrine in der Küche, die noch am selben Platz stand.

      Hier in dieser beschaulichen Gemeinde hatte der Schüler Heinrich Christian Wilhelm Busch drei Jahre lang Lehrer Lämpels Dorfschule besucht. Und hier in diesem Haus war Lämpel anno 1841 mehrmals zu Besuch gewesen. Aber nicht etwa, weil der kleine Wilhelm Anlass zur Besorgnis oder gar Beschwerde gegeben hätte. Nein, mit ihm gab es keine Probleme.

      Mit seinem störrischen, uneinsichtigen Vater hingegen schon, denn dieser puritanischen Krämerseele genügte die Dorfschule nicht. Deshalb meldete der alte Busch seinen erst neunjährigen Sohn von Lämpels Bildungsanstalt ab und schickte ihn zu seinem Schwager, einem hunderte Kilometer entfernt lebenden Pastor, der Wilhelm fortan privat unterrichtete.

      Lehrer Lämpel litt unter diesem Affront so sehr, dass er nächtelang nicht schlafen und tagsüber nur schwerlich seine Lehrtätigkeit verrichten konnte. Bei seinen Hausbesuchen zog er alle Register: Wechselweise redete er mit Engelszungen auf Wilhelms Eltern ein oder er warnte vor der Entwurzelung und Entfremdung ihres sensiblen Zöglings. Ein andermal drohte, schimpfte und fluchte er. Ja, er mobilisierte sogar den Pfarrer und den Arzt zur Unterstützung. Aber nichts half, der alte Sturkopf rückte keinen Millimeter von seinem Entschluss ab.

      Bei meinem letzten Auftritt habe ich diese Haustür wutentbrannt zugeworfen und seitdem das Anwesen der Familie Busch nie mehr betreten, erinnerte sich Lämpel. Jedenfalls wissentlich, ergänzte er in Gedanken. Denn an der Tatsache, dass ich ausgerechnet hier aufgewacht bin, besteht ja wohl kaum ein Zweifel. Wieso bin ich überhaupt in diesem Haus gelandet?

      Frag nicht so viel, sondern setz dich endlich an den Tisch und lies den Ordner!, polterte die Geisterstimme.