In der Mitte des Raumes steht ein Tisch, auf dem die üblichen Illustrierten ihren Platz haben. Ein paar farbenprächtige Bilder verleihen den schlichten Wänden ein wenig Heiterkeit. Ich krame aus meiner Tasche mein Buch heraus, lese eine kleine Weile darin, und merke dann aber, dass ich von dem Gelesenen gar nichts in mich aufnehme. Ich befinde mich in einem hoch angespannten nervösen Zustand, einem Ausnahmezustand. Dann wird ein Name aufgerufen. Die Frau verschwindet ganz schnell in einer freien Kabine. Mir ist es zu still zwischen all diesen Leidgeprüften. Wir sind alles Fremde untereinander, und doch verbindet uns eine gemeinsame schwere Erkrankung. Das wissen wir immerhin von unserem Gegenüber. In dieser äußerst angespannten Lage erweist sich mein mitgebrachter Apfel als sehr wohltuend. Bei der Suche nach einem Abfallbehälter kann ich mich wenigstens etwas bewegen. Beim langen Sitzen spürte ich schon eine leichte Verkrampfung. Mit einer bunten Regenbogenzeitung in der Hand setze ich mich auf einen inzwischen leer gewordenen Stuhl. Die bunten Fotos können mich aber auch nicht von meinen hochaktuellen Gedanken ablenken, die jetzt wie wild durch meinen Kopf jagen. Mein vorsichtiger Versuch, diese erdrückende Stille und Sterilität zu durchbrechen, gelingt, und ich habe das Gefühl, dass die neben mir sitzende Frau sich auf mein begonnenes Gespräch bereitwillig einlässt. Wir reden über unsere Erfahrungen, die wir zu verschiedenen Zeiten hier in dieser Klinik gemacht haben. Aber wir teilen uns vertrauensvoll auch den Verlauf unserer Erkrankung mit. Dieser Austausch baut ein wenig meine auflodernden Ängste ab. Ich schaue in die Runde, sehe in die Gesichter, die wie gute Masken das Leid verbergen. Ich denke, wie geschickt können Erwachsene ihr Leid verstecken. Trotzdem bleibt mir das Angespannte in den Gesichtszügen nicht verborgen. Da kommt eine Frau von ihrer Untersuchung zurück. Mir ist, als trage sie jetzt die Sonne auf ihrem Antlitz. Sie braucht es mir gar nicht zu sagen, dass bei ihr alles in bester Ordnung ist. Hoffentlich bin auch ich bald an der Reihe. Meine Ungeduld treibt mich zu einer medizinischen Assistentin, von der ich die Auskunft bekomme: „Heute dauert es leider so lange, weil zwei Ärzte in Urlaub sind.“ Das ist immerhin eine einleuchtende Erklärung für mein übermäßig langes Warten, und ich merke, wie in mir gleich Verständnis für diese außergewöhnliche Lage da ist. Aber hätte man uns ohnehin auf die Folter Gespannten nicht auch ohne mein Nachfragen diese aufklärende Mitteilung machen können? Tapfer setze ich mich wieder auf meinen Stuhl und verkündige den Anwesenden Frauen, weshalb es heute so lange dauert. Zwischendurch werden auch noch Patientinnen im Bett, die von einer Schwester gebracht werden, bevorzugt untersucht. Auf dem angrenzenden Flur herrscht den ganzen Vormittag reges Treiben.
Mein Magen signalisiert mir, ohne dass ich auf die Uhr zu schauen brauche, dass es schon Mittagszeit ist. Doch dann vernehmen meine Ohren meinen Namen. Schnell stehe ich auf und laufe in die eben freigewordene Umkleidekabine. In diesem tristen winzigen Raum gibt es nicht mal ein Bild oder Poster an der Wand. Etwas Heiteres, Buntes, noch besser Tröstendes könnte ich gerade in dieser Alarmstufe meiner Befindlichkeit gut gebrauchen. Mit fahrigen Händen entkleide ich meinen Oberkörper, und ich setze mich mit meiner umgehängten Strickjacke auf das einzige Möbelstück, den Stuhl. Mich interessiert der Spiegel an der einen Wand im Moment überhaupt nicht. Von innen wird die Kabinentür von einer medizinisch-technischen Assistentin geöffnet. Sie begrüßt mich kurz mit meinem Namen und führt dann routinemäßig mit geschickten Händen die Röntgenuntersuchung bei mir durch. Während die Aufnahmen entwickelt werden, sitze ich wieder mit entblößtem Oberkörper in der engen Kabine, und jetzt spüre ich, dass mir der Angstschweiß unter meinen Achseln ausbricht. „Sie können sich wieder anziehen, aber bitte warten Sie noch draußen.“ Diesen Ablauf verstehe ich nun gar nicht mehr. Sonst hat mich immer eine Ärztin gleich in der Umkleidekabine sorgfältig untersucht und mir dann das Ergebnis mitgeteilt. Heute jedoch werde ich noch einmal erneut hereingerufen, muss wieder meinen Oberkörper freimachen, und der Chef untersucht mich eigenhändig. Dieses ungewohnte Vorgehen schürt meine Angst fast ins Unerträgliche. Dann geschieht etwas Ungewöhnliches: „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Sie hatten um zehn Uhr Ihren Termin, und nun ist es schon kurz nach zwölf“, sagt der Professor mit warmer einfühlsamer Stimme zu mir, während er sehr gründlich meinen ganzen Oberkörper abtastet. „Ich hörte, dass zwei Ihrer Ärzte im Urlaub sind, und habe für Ihre Lage Verständnis. Sie können bestimmt nicht noch schneller arbeiten, denn bei Ihnen kommt es ja so sehr auf Gewissenhaftigkeit an.“ Der Mann im weißen Kittel schaut mir ins Gesicht und sagt: „Das ist aber lieb von Ihnen, dass Sie das sagen.“ Der erlösende und befreiende Ausspruch, der alle Angst hinwegspült, kommt zum Schluss: „Es ist alles in Ordnung bei Ihnen, es besteht kein Hinweis auf ein Rezidiv. Aber in einem halben Jahr müssen Sie bitte wieder zur Untersuchung kommen.“ - „Ja, das weiß ich, Herr Professor.“ Und vor Freude möchte ich diesen väterlichen Arzt am liebsten in meine Arme nehmen. Warum habe ich in diesem Glücksmoment doch noch Hemmungen? Warum verweigere ich dem Mann in Weiß, an meiner Freude teilzuhaben?
Draußen an der frischen Luft gehen so viele fremde Menschen an mir vorbei. Ob vielleicht einer von ihnen meine vor Glück strahlenden Augen bemerkt? Als ich ein paar Stufen überwinden muss, weil ich in einem Blumenladen einen bezaubernden bunten Asternstrauß gekauft habe, stolpere ich auf der Treppe, falle mit den Blumen in der Hand halb hin, und da merke ich, dass meine Ängste doch nicht so schnell aus meinem Körper gewichen sind, wie ich es gerne hätte. Auf der Bahnfahrt kann ich mich dann endlich ausruhen, und ich denke, dass ich auf der Hinfahrt schwer mit Sorgen beladen war, während ich mich jetzt leichter fühle, weil ich wieder mal für mehrere Monate entsorgt bin, was die akute Gefahr anbetrifft. Zuhause gut angekommen, teile ich die frohe Botschaft meinem Mann gleich mit. Er schließt mich sichtlich erleichtert in seine Arme. Dann bahnen sich bei mir Tränen der Erschöpfung erlösend ihren Fluss. Nachmittags schlafe ich zwei Stunden wohlig entspannt und geborgen, wie in Abrahams Schoß. Und ich darf, ich kann, ich möchte noch leben. Dennoch ist mir bewusst, dass ich auch weiterhin nicht leicht an meinem Krebs-Kreuz zu tragen habe. Aber ich trage auch viel Hoffnung in mir. Und ich verlasse mich ganz auf Gottes Hilfe und dass Er mich auf allen meinen Wegen begleiten wird.
Viele unserer Hoffnungen
ergeben einen Scherbenhaufen,
auf dem neue Hoffnungen Blumen blühen lassen.
In Gottes Händen
In Gottes Händen
Gottes Hände
sind mir Halt und Weiser
auf meinem manchmal beschwerlichen Weg.
Gottes Hände
sind wie eine Oase.
Wenn ich mich durch die Wüste schleppe,
reichen sie mir zu rechten Zeit eine Erfrischung.
Gottes Hände
sind wie ein Wasserschloss.
Ich darf in ihnen geborgen und sicher sein.
Gottes Hände
sind wie ein Netz im Zirkuszelt.
Sie fangen mich auf, ohne mich einzuengen.
Gottes Hände sind
wie wärmende Liebe.
Wenn ich einsam