Die Kapitäne der Transportschiffe hatten sich gewundert, dass sie Jahr für Jahr von einer größeren Menschenmenge an der Landestelle erwartet wurden. Nach allem menschlichen Ermessen ließ das spröde Land rund um das spätere Thedra den Ausgesetzten keine Überlebenschance. Ohne Schutz auf nacktem Stein, durch eine gewaltige Felsbarriere vom Hinterland abgeschnitten, ohne Brenn- und Bauholz, hätte keiner der Verbannten auch nur einen einzigen Winter überleben dürfen.
Verwundert hatten die Kapitäne ihren Dienstherren von dieser seltsamen Kolonie am Ende der Welt erzählt, aber man hatte ihre Berichte nicht ernst genommen.
Jahr für Jahr vergrößerte sich die Menschenmenge, die die Verbannten in Empfang nahm, die von bewaffneten Matrosen am Strand abgesetzt wurden. Aber nicht nur, dass die Ausgesetzten überlebten - sie erfreuten sich augenscheinlich bester Gesundheit und in jedem Frühjahr sahen die staunenden Kapitäne wieder ein paar Kinder mehr zwischen den Erwachsenen herumlaufen.
Irgendwann waren die Berichte über diese eigentlich unmögliche Kolonie im Norden seines Reiches auch zum Kaiser des Kontinents vorgedrungen. Sein Interesse war geweckt. Eine neue Siedlung in seinem Machtbereich, das mußte erkundet werden!
So war denn der nächste Gefangenentransport von zwei kaiserlichen Schiffen begleitet worden. An Bord der drei kleinen Einmaster befanden sich insgesamt einhundertfünfzig Bewaffnete unter dem Befehl des neu ernannten, kaiserlichen Statthalters der Nordkap-Kolonie, der nach erfolgter Befriedung sein Amt antreten sollte.
Tief im Wasser liegend, bis an die Grenzen ihres Fassungsvermögens beladen, verließen die Schiffe den Hafen der kaiserlichen Festung. In ihren Laderäumen führten sie alles mit sich, was zur Gründung einer kleinen Stadt erforderlich schien: Proviant für zwei Jahre, Bauholz und Werkzeuge, Saatgut und Zuchtschafe, Hunde und Katzen, Fünftausend kleine Kupfermünzen mit dem Bildnis des Kaisers darauf, und - weil Geld Ärger nach sich zieht - ein Richter und ein Steuereintreiber. - Keiner der Männer betrat je den Boden Thedras und keines der drei Schiffe kehrte je zurück.
Jetzt endlich zeigte sich der entscheidende Fehler in der Rechnung der Herrschenden. Statt brav zu verhungern und zu erfrieren, wie der Plan es vorsah, hatten die Verbannten eine starke Kolonie gegründet. - Viel stärker, als die Kapitäne der Gefangenenschiffe es sich hätten träumen lassen. Die Gruppe, die alljährlich am Strand die Gefangenenschiffe erwartete, zählte nur etwa einhundert Personen. Hätten die Mannschaften der Landungsboote sich genauer umgesehen, hätten sie festgestellt, dass es sich dabei vornehmlich um Kinder und Greise handelte. Der Großteil der Verbannten, Männer wie Frauen, lag dagegen versteckt in den Klippen bereit und wartete auf die entscheidende Chance. Sie waren bestens gerüstet, sich das Schiff eines unvorsichtigen Kapitäns anzueignen. Lange schon lag nahe am Strand, jedoch vom Wasser aus nicht zu sehen, in jeder Felsspalte ein leichtes Boot bereit. Mit alledem hatte der kaiserliche Kommandeur nicht gerechnet und ließ in seinem Leichtsinn alle Beiboote zugleich mit Mannschaften besetzen, um etwaigen Widerstand am Ufer sofort brechen zu können.
Als die Kaiserlichen ihre Landungsboote ausbrachten, hatten die Thedraner gewartet, bis die Feinde sich halbwegs zwischen den Schiffen und dem Land befanden. Dann waren sie aus ihren Verstecken hervorgebrochen und mit den blitzschnell zu Wasser gebrachten leichten Booten waren sie mitten zwischen die kaiserlichen Invasoren gefahren. Entsetzt hatten die Matrosen versucht, zurück zu den Schiffen zu fliehen, doch die Thedraner waren wie ein Sturmwind über sie und die Soldaten hergefallen. So schnell waren sie gewesen, dass sie während des Kampfes die kaiserlichen Boote, deren Mannschaften verzweifelt ruderten, mehrfach umrundeten. Stählerne Bogen hielten die thedranischen Schützen in ihren Händen und stählerne Pfeile hielten grausame Ernte unter den Männern des Kaisers. In weniger als drei Sonnenhöhen war die Invasionstruppe des Kaisers vernichtet worden, und die Jagd auf die Schiffe hatte begonnen.
Recht anschaulich wird der Hergang in einem Heldenlied aus alter Zeit berichtet:
Hochschäumend in roter See
des Kaisers Blut im Wasser vor Thedra
kühn stürzend in brausende Gischt
das Volk der Verfemten.
Singend des Magiers silberner Bogen
versengend des Magiers eiserner Pfeil
verbrennend die Segel der fliehenden Schiffe
mit magischem Feuer.
Niederfahrend die stählernen Klingen
Gnade gewährend durch raschen Tod
Aganez Gift bringt rasche Erlösung
den Männern des Kaisers.
Vergangen die Brände, gewonnen die Schiffe
des Kaisers Blut netzt Rumpf und Deck
nicht länger an kalten Fels gekettet
Volk von Thedra.
In diesem Heldenlied wird erstmals der Name von Aganez erwähnt, einem Magischen Mediziner, der sich den Regeln seiner Zunft widersetzt hatte. Um einem bedrängten Volk zu helfen hatte er sein Wissen dazu benutzt, Waffen zu machen, und dafür war er hier an das Ende der Welt verbannt worden. - So kam es, dass in Thedra fast von der ersten Stunde an ein Magier gewirkt hatte. Ein Ausgestoßener zwar - aber immerhin ein Magier - und ein sehr kämpferischer zudem. Einer der wenigen Menschen auf dem Kontinent, der sich auf die Herstellung von federndem Stahl verstand und der sich auch nicht scheute, Schwerter und Bögen daraus zu schmieden, die allen anderen Waffen weit überlegen waren. Die Besatzungen der kaiserlichen Schiffe und Boote hatten nicht die geringste Chance gehabt, sich den wütenden Thedranern zu widersetzen, und das war allein Aganez´ Verdienst gewesen.
Schon kurz nachdem die Verbannten in kühnem Handstreich die drei Schiffe erbeutet hatten, verloren sie eines davon gleich wieder an die Finder. Der Verlust der Fracht traf die junge Kolonie damals so hart, dass deren Bewohner den Findern ewige Rache geschworen hatten. So waren denn die Thedraner darangegangen Schiffe zu bauen, die so schnell und unangreifbar waren, dass niemand sie ernsthaft bedrohen konnte.
War Thedra ehedem ein Ort gewesen, an dem die Verbannten des ganzen Kontinents in Trostlosigkeit und Kälte lebten und einer des anderen Sprache nicht verstand, so wurde es nun zu einem Schmelztiegel des Wissens aller Völker.
Schiffbauer aus Sordos, Seidensegelmacher aus Numis, Kupferschmiede aus Eraji und Löwenbootfahrer von der südlichen Küste, sie alle gaben ihr Wissen und ihr ganzes Können; und innerhalb von Jahresfrist verließ die `Turmalin', das erste aller Fliegenden Schiffe, den Hafen von Thedra.
Heimlich war sie in einem abgelegenen Hafenbecken, dem heutigen Schwalbenhafen, gebaut worden, und heimlich fuhr sie ihren ersten Einsatz. Die `Turmalin' hatte etwas ganz Besonderes an Bord gehabt. Etwas, das, wie die Fliegenden Schiffe selbst, den Machtanspruch der Dramilen brechen sollte. - Auf dem Vorderdeck war ein Bogen aus blinkendem Stahl montiert, und in einer stabilen Kiste warteten gläserne Hohlpfeile darauf, auf vorwitzige Angreifer verschossen zu werden. Gefüllt waren diese Pfeile mit einem unscheinbaren, grauen Pulver, mit der furchtbarsten Waffe des Zeitalters. - Mit Aganez' Feuer!
Hatte Aganez sich bislang standhaft geweigert, die Schiffe der Thedraner mit Stahlfeuerbögen auszurüsten, so hatte er dieses leichte, schnelle Langboot selbst damit ausgestattet. Mehr noch: Er selbst hatte an Deck vor dem Mastbaum gestanden und hätte notfalls den ersten Schuß auf ein Finderschiff getan.
Die Turmalin war das schnellste Schiff gewesen, das je ein Meer befahren hatte. Schon mäßiger Wind griff derart stark in das riesige Segel, dass sich der Bootskörper nahezu zur Gänze aus dem Wasser hob. Es erforderte die volle Konzentration und die ganze Kraft der kleinen Mannschaft, das dahinrasende Schiff nicht aus dem Wind fallen und kentern zu lassen.
Ganze drei Tage hatte die Fahrt in den einsamen Gewässern des Nordmeeres