Aels Vater war Scharmann gewesen und jahrzehntelang als Windmeister auf einem Großschiff gefahren. Zu Teris Bedauern war das auch schon alles, was ihre Mutter über den Beruf des Großvaters zu berichten wußte. Ausnahmslos alle Scharleute wurden schon als Anwärter von den Magiern hypnotisch konditioniert, so dass es ihnen unmöglich war, Außenstehenden etwas über die Ausübung ihres Berufes zu erzählen. - Aber selbst das wußte Ael nicht. Sie konnte nur berichten, dass ihr Vater sehr verschlossen gewesen war, was Fragen nach seiner wirklichen Funktion an Bord anging. - Wovon er aber erzählt hatte, das war von den fremden Hafenstädten, den seltsamen Gebäuden und Pflanzen anderer Länder, den Menschen mit den absonderlichsten Hautfarben, den gefährlichsten Tieren der Welt und den abscheulichsten Riten der Eingeborenen in den fremden, fernen Ländern.
Aels Erinnerungsvermögen war unerschöpflich, was die alten Erzählungen von Teris Großvater anging - und wenn die Erinnerung versagte - wer würde es einer Mutter nicht verzeihen, wenn sie auch ab und an die eigene Phantasie bemüht, um ihr siebenjähriges Töchterchen bei Laune zu halten?
So erfuhr Teri von dem Volk, wo bei allen Menschen die Zunge oben am Gaumen angewachsen war. Das machte sich natürlich bei der Aussprache bemerkbar, hatte Aels Vater erklärt. Teri konnte von dieser Geschichte nicht genug kriegen und wollte jedes Mal sterben vor Lachen, wenn die Mutter vormachte, wie diese Leute sprachen.
Auch lernte Teri, dass die Drachen, die auf den Inseln hinter den Nordinseln wohnen, ganz dick und erstaunlich leicht sind, so dass sie bei starkem Wind davongeweht werden können, wenn sie sich nicht ordentlich festhalten. Im übrigen spien diese Drachen das Feuer nicht in einem flammenden Strahl aus, wie viele Leute glauben, sondern schleuderten einen klebrigen Rotz aus ihrem Maul, der sich erst an der Luft entzündet.
Aels Vater hatte selbst erlebt, wie einmal ein Drache von einem Felssturz erschreckt wurde und wütend einen großen Felsbrocken anspie. Der Block hatte einen halben Tag lang gebrannt und war geschmolzen wie ein Stück Fett im Topf. Als Beweis hatte er seiner Tochter damals einen verkohlten Zweig, von einem Baum der in der Nähe gestanden hatte, mitgebracht - und das war doch wohl ein unwiderlegbarer Beweis.
Wenn Teris Mutter des Erzählens müde war, sang der Vater oftmals leise eines der vielen Formerlieder, während er seine Drehscheibe im Takt antrieb, und auch Teri trug zur Unterhaltung bei, indem sie ab und an ein Kinderliedchen trällerte oder sich haarsträubende Lügengeschichten ausdachte.
So verging der dunkle Winter schnell, und kaum hatte die Sonne die ersten Grashälmchen aus den Felsspalten gelockt, begrüßte eine quietschvergnügte, mittlerweile achtjährige, Teri den jungen Frühling und machte die Stadt unsicher.
Neben den üblichen Spielen, die die Kinder Thedras zu allen Zeiten gespielt hatten, hatte Teri in diesem Jahr eine besondere Leidenschaft entwickelt: Ganz besonders liebte sie es, sich im winzigen Vorhof des Schwalbenhafens aufzuhalten, wo fast ausschließlich die in gelbe Seide gekleideten Scharleute und die in dunkles Leinen gewandeten Schiffbauer verkehrten.
Seit Athan ihr verheißen hatte, sie werde mit den Schiffen fliegen, hatte sich ihr junges Leben grundlegend verändert. Die Euphorie der ersten Tage war einer ständig wachsenden Sorge gewichen: Was, wenn Athan sein Versprechen vergaß? Was, wenn er auf See verletzt oder getötet würde - oder er an Altersschwäche starb? Was würde dann aus seinem Versprechen werden?
So trieb sie eine tiefe, uneigennützige Sorge immer wieder in den Vorhof des Schwalbenhafens, und so oft der Obmann das Hafengelände betrat oder verließ, stand abseits seines Weges ein kleines, blondes Mädchen und suchte mit besorgten Blicken seinen Körper nach etwaigen Verfallserscheinungen ab.
Lästig bei dieser so wichtigen Kontrollarbeit waren einzig die Wachen, die es einfach nicht einsehen wollten, dass Teri unbedingt stundenlang hier herumlungern mußte.
Schließlich hatte Teri hoch oben in der Klippe, die den Schwalbenhafen von der Stadt trennte, eine ideale Beobachtungsplattform gefunden: Ein Spalt im Felsen, gerade breit genug, ihren schmalen Körper aufzunehmen, wurde nun zu ihrem Stammplatz. Dort saß sie dann in luftiger Höhe und schaute auf den Vorhof des Hafens hinab.
Die Wachen hatten nicht viel gegen Teris Kletterpartien. Trotzdem wurde es von Mal zu Mal schwieriger, ihnen zu entwischen. Jedes Mal, wenn einer der Aufseher Teri erblickte, machten sich alle einen Spaß daraus, Jagd auf das Mädchen zu machen. Bislang war es Teri noch jedes Mal gelungen, den Wachen zu entwischen. - Sie kletterte sehr gut, und die Vorsprünge und Nischen im Fels, in denen ihre Finger und Zehen gerade noch Halt fanden, hätten die Männer niemals getragen.
So sauste sie dann regelmäßig die senkrecht emporragende Felswand empor, um schnell aus der Reichweite der Aufseher zu kommen. Natürlich wußte sie, dass die Wachen sich mit der "Jagd" auf sie nur die Langeweile vertreiben wollten und dass die Männer ihr den Spottnamen "Eichhörnchen" gegeben hatten - sie schrien ihn ja laut genug. - Selbstverständlich wußte sie, dass alles nur ein Spiel war. - Aber erwischen ließ sie sich trotzdem nicht.
Völlig außer Atem kam sie jedes Mal auf ihrem Beobachtungsposten an. Der kaum drei Männerhände breite Riß in der Klippe war in Jahrtausenden von Strömen von Regenwasser innen ganz glattgeschliffen worden. Nicht nur, dass Teri sich seitwärts hineinschieben konnte; in seinem Inneren wurde der Spalt sogar noch etwas breiter, so dass sie sich sogar fast setzen konnte. In dieser Stellung, die sie bequem nannte, verharrte Teri oft stundenlang, acht Mannshöhen über dem Felsboden des kleinen Platzes.
Nicht, dass es hier besonders viel zu sehen gegeben hätte. Außer den Wachen und Scharleuten kamen nur noch die Schiffbauer hier vorbei. Manchmal, aber nur ganz selten, wurde das große Tor geöffnet, um Karren voller Handelsware durchzulassen. Dann wußte Teri, dass gerade wieder eines der Fliegenden Schiffe in den Hafen gekommen war, oder beladen wurde, um auf große Fahrt zu gehen.
Anders als im Schneckenhafen, war hier nicht ein einziges fremdsprachiges Wort zu hören. Nur Leute aus der Stadt durften das Tor zum Schwalbenhafen passieren und auch von denen nur ein sehr kleiner, ausgesuchter Kreis. Wenn Teri Hafenatmosphäre gesucht hätte, wäre sie im anderen Hafen der Stadt besser aufgehoben gewesen.
Teri spürte die Nähe der Schwalbenschiffe.
Sie würde mit den Schiffen fliegen.
Teri nahm kaum etwas von dem Treiben unter ihr wahr.
Teri saß da und schaute sehnsüchtig zu dem großen Tor hinüber.
Teri sah durch das Tor hindurch.
"He, Mädchen, komm herunter!" Laut rief der Kapitän ihren Namen. Aber Teri wollte nicht hinunterklettern. Hoch über dem Deck der `Diamant' hangelte sie sich im Tauwerk der Masten immer weiter empor.
"Teri!" Die Stimme unter ihr nahm einen befehlenden Ton an.
Teri schaute hinab. Athan stand dort. Winzig klein sah er aus, wie er dort unten auf dem Deck die Hand nach ihr ausstreckte. Athan war ihr böse. Warum, das wußte Teri nicht ganz genau. Es hing wahrscheinlich damit zusammen, dass sie Kapitän werden wollte. - Egal! Hier oben konnte er ihr nichts anhaben.
"Komm herunter!"
Teri kletterte noch höher, jetzt hatte sie die Mastspitze erreicht. Triumphierend schaute sie hinab, doch zu ihrem Entsetzen war Athan in der Zwischenzeit um ein Vielfaches gewachsen. Immer näher kam das wutverzerrte Gesicht des Kapitäns, und seine Hand hatte fast schon ihre Knöchel erreicht. "Nein!", stöhnte Teri verzweifelt auf. Gleich würde Athan sie ergreifen. Wild schlug sie um sich, um ihn abzuwehren.
"Pass auf! Halt dich fest!" Das Bild Athans begann zu verblassen. "Sei vorsichtig!"
Teri spürte Felsgestein unter ihren Händen und schlug ihre Augen auf. Erschreckt zuckte sie zurück. Sie war bei ihren verzweifelten Versuchen, Athan abzuwehren, halb aus ihrem sicheren Hochsitz in der Klippe herausgerutscht.
"Teri, komm herunter!"
Irritiert schaute Teri nach unten. Dort stand einer der Verkünder und schaute zu ihr hoch. "Du bist doch Teri, oder?", wollte der Mann von ihr wissen.
Teri nickte.
"Dann