So hat der Künstler sein Werk geschaut und erdacht und hat es in dichterischer Begeisterung im Stein verwirklicht. So hat Ruysbroeck die drei Stufen des geistlichen Lebens in der Gottesminne gelebt und in lebendigen Worten dargestellt. Der architektonische Aufbau Beider ist der gleiche, und es wäre eine unnütze Aufgabe, un¬tersuchen zu wollen, welcher von beiden vom anderen gelernt habe, da der Baumeister Mystiker war und der Mystiker Baumeister.
Von dem Leben und äußeren Schicksalen Ruysbroeck‘s wissen wir nicht sehr viel. Seine kurzgefaßte Biographie verdanken wir einem Ungenannten, einem Regular-Kanoniker, der nicht lange nach Ruysbroeck lebte und seine Notizen“ von glaubwürdigen Augel1- und Ohrenzeugen“ sammelte. Nach seinem Berichte ist Ruysbroeck um das Jahr 12931 in Ruysbroeck, einem Dorfe zwischen Brüssel und Hai, geboren. Von seinem Vater wissen wir gar nichts, von seiner Mutter fast nur, daß sie eine fromme Frau war und ihren Sohn sehr liebte.
In seinem elften Jahre kam Ruysbroeck nach Brüssel, um die freien Künste zu erlernen, nach vier Jahren jedoch verließ er Brüssel und widmete sich dem geistlichen Stande.
In seinem 24. Jahre wurde er zum Priester geweiht und soll danach Vikar an der St. Gudula-Kirche in Brüssel gewesen sein. In dieser Stadt lebte er bis zu seinem 60. Jahre als Weltpriester in gesegneter Thätigkeit und stand wegen seines heiligen Lebenswandels in großem Ruf. Hier schrieb er u. A. sein Buch „Die Zierde der geistlichen Hochzeit“, welches er im Jahre 1350 den Gottesfreunden im Oberlande zusandte.
In seinem 60. Jahre zog sich Ruysbroeck mit mehreren Freunden in das neugegründete Kloster Grunendal, einem Verein regulierter Chorherren des heiligen Augustinus angehörig, zurück, als dessen Prior er starb, Nach anderen glaublicheren Meldungen war Ruysbroeck selbst der Stifter und erste Prior des Klosters. Dort im Sonjenbosch, einem großen Buchenwald zwei Meilen von Brüssel, „verjüngte er sich wie ein Adler“, wie es in seiner Biographie heißt. Gegen sich selber streng in Kleidung, Wachen und Fasten, war er gegen Andere voll· Milde. Dies Herz, so reich an Erbarmen, ergoss sich selbst über die unvernünftigen Kreaturen, und Ruysbroeck erinnert hierin an St. Franziskus.
Seine Erscheinung hatte etwas ungemein Mildes und zugleich Ehrfurcht gebietendes: „die Gnade Gottes leuchtete aus seinem Antlitz.“ So schildert ihn auch Thomas a Kempis. Was wir fast durchweg von den echten Mystikern des Mittelalters lesen, auch von St. Bernhard: Die Verbindung von tief innerlichstem Thun, von mystischer Beschauung mit mühlicher Handarbeit, von Hoheit der Empfindungen mit demütigstem Werk, von Höhe mit Tiefe, von Freiheit mit Gehorsam, und was sie auch selbst auf allen Blättern ihrer Schriften als das echte Kenn¬zeichen eines wahren Mystikers hinstellen - ganz diesen selben Charakterzug finden wir in Ruysbroeck‘s Leben, in seinem hohen Alter noch: „Wenn er in den Uebungen des inneren Lebens sich gleichsam erschöpft hatte, so hinderte ihn das doch nicht, sich zur schwersten und unansehnlichsten Handarbeit darzubieten.
Er trug selbst zuweilen Mist. Freilich war er bei seiner Einfalt den Brüdern oft mehr eine Last in diesen Arbeiten, als eine Förderung; im Garten z. B., wenn er das Unkraut ausjäten wollte, riß er oft die heilsamsten Kräuter aus.“
Er scheint darin eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bruder Juniperus, dem Gefährten des Franziskus von Assisi, gehabt zu haben.
Also fast gleichzeitig mit Tauler (1290) und Seusse (1300). Im Kloster selbst muss es ein reiches (mystisches) Leben gewesen sein unter den Bewohnern, über welche der Geist Ruysbroeck‘s sich ausgegossen hatte, der oft bis tief in die Nacht hinein „von Gott und heiligen Dingen“ sprach.
Der Ruf von Ruysbroeck‘s heiligem Leben wie seine Schriften zogen von nah und fern Doktoren und andere Geistliche, Vornehme und Edle beiderlei Geschlechts nach Grunendal: sie kamen aus Flandern, Holland, den Rheingegenden (bis von Straßburg und Basel), aus Frankreich. Unstreitig die zwei berühmtesten und einfluss¬reichsten Persönlichkeiten von allen, die zu ihm kamen, waren Gerhard Groot und Tauler. Wenn Tauler den Ru¬ysbroeck als Geistesverwandter und Ebenbürtiger besuchte, so war offenbar das Verhältnis Groot‘s ein anderes. Nicht ein Mal, sondern oft, und nicht nur für Tage, mitunter 2 bis 3 Monate, zuweilen ein halbes Jahr soll er bei ihm verweilt haben. Wir dürfen daher wohl in Groot einen Schüler Ruysbroeck‘s sehen. Siebenundachtzig Jahre hatte Ruysbroeck zurückgelegt, seine Augen dunkelten, daß er die Hostie nicht mehr erkannte, und er fühlte seine Stunde gekommen.
Als sein Tod heranrückte dessen Tag und Stunde er, wie sein Biograph berichtet, lange vorher in einer Vision erfahren hatte, ließ er sich aus der Kammer der Vorsteher in die gemeine Krankenstube der Brüder tragen. Am 15. Tage, nachdem er sich gelegt, entschlief er in Gegenwart seiner Brüder „bei gesundem Verstand, mit glänzendem Antlitz, ohne die gemeinen Zufälle der Sterbenden“, im Jahre 1381, den 2. Dezember. Mit den oberdeutschen Mystikern, die damals sehr zahlreich waren, in einer Art von Verband standen und vorzugsweise Gottesfreunde hießen (Taul er, Seusse [Suso], Nikolaus v. Basel, Merswin, Heinrich v. Nördlingen), stand Ruysbroeck in regem Verkehr. Es ist nur aus gegenseitiger Lektüre zu erklären, da sich bei Tauler, Seusse und Rnysbroeck nicht nur einzelne Ausdrücke, sondern auch ganze Sätze finden, die fast wörtlich gleichlauten, ohne daß man sagen könnte, bei wem sie nur Reminiscenz seien, bei wem ursprünglich. Damit ist aber nicht gesagt, daß einer von dem anderen abhängig gewesen sei, daß nicht ein jeder dieser Männer seine ganz besondere Eigentümlichkeit gehabt habe. Wie Seusse mehr poetisch, Tauler mehr praktisch auf das Volk wirkend, so ist Ruysbroeck kontemplativ.
Seine Kontemplation erhebt ihre Schwingen in die höchsten Sphären, wohin man ihr kaum folgen kann. Es ist aber gerade dieses eine Eigentümlichkeit Ruysbroeck‘s, daß er die Mystik bis zu ihrem letzten Stadium führte, wo das Menschenleben zu einem göttlich-menschlichen Leben wird. Dieses Gebiet wurde von anderen Mystikern nur mit einer gewissen zarten und ehrfurchtsvollen Scheu angedeutet, Huysbroeck aber müht sich ab, seinen inneren Erlebnissen in diesem höchsten, mysteriösesten Gebiet Worte zu verleihen, das Unsagbare zu sagen, und sein Bemühen gleicht da, wie Maeterlinck sagt:
„au vol convulsif d‘un aigle ivre, aveugle et ensanglanté au-dessus de cimes neigeuses.“
In dem dritten Buche der „geistlichen Hochzeit“, von dem hier die Rede ist, finden sich denn auch einige Sätze, welche der scharfen Kritik des Kanzlers der Pariser Universität, Gerson, Veranlassung zu Tadel boten. Doch ist zu bemerken, daß diesem Censor nur eine lateinische Übersetzung vorlag, welche die angegriffenen Stellen anstößi¬ger erscheinen läßt, als sie im vlämischen Texte lauten, und daß auch die Kritik keine sachlichen Verstöße fand, sondern sich nur auf die Ausdrucksweise erstreckte. Grade die Irrtümer aber, zu denen, nach Gerson‘s Ansicht, der sprachliche Ausdruck Ruysbroeck‘s hätte führen können, sind es, welche Ruysbroeck fortwährend in seinen Schriften auf das Heftigste bekämpft.
Gegen die ketzerische Mystik seiner Zeit, die zahlreiche Sekten hatte, unter denen besonders die Brüder und Schwestern vom freien Geist und die Begharden zu erwähnen sein dürften, wandte sich Ruysbroeck mit allem Ei¬fer, und es ist hauptsächlich die falsche Selbstvergötterung an Stelle der wahren mystischen Union mit Gott und der falsche Quietismus, die „natürliche Ledigkeit“, gegen welche er am eindringlichsten schreibt. So eingehend er aber die Systeme der Aftermystik darstellt, so wenig geht er dabei historisch zu Werke, so daß man nicht erfährt, welche Sekten es sind, die er meint, oder welche geschichtlichen Thatsachen seinen Ausführungen entsprechen.
Auch gegen die Ausartung einer habsüchtigen, herrschsüchtigen und schwelgerischen Weltgeistlichkeit führt er bittere Klage und geißelt mit heftigen Worten und heiligem Eifer die Lockerung der Disziplin und den Verfall der Sitten in den Klöstern. Es zeigt sich in diesen argen Missständen der dunkle Schatten in dem Leben der mittelalterlichen Religiösen, der eben auch zur Signatur seiner Zeit gehört zu dem scharf ausgesprochenen Gegensatz von Licht und Finsternis, der erst später zusammenfloss und sich in das