Es kann nicht genug vor solchen Frühgeburten gewarnt werden
und vor dem kritiklosen Annehmen aus den Händen solcher Autoritäten.
Mancher bedarf der Kindermilch, der starke Speisen noch nicht verdauen kann; unverdaulich zu sein für Kinder und Erwachsene ist aber das charakteristische Merkmal so vieler s.g. theosophischer Schriften, die gerade jetzt wie Pilze hervorschießen.
Hell dagegen leuchtet die Wahrheit aus manchen heiligen Büchern des Ostens, und wenn ich von diesen nur die Bhagavad-Gita und das Tao-te-King nenne, so thue ich es, weil Übersetzer gerade in diesen beiden Schriften so viel christliche Gedanken vorfanden, dass sie glaubten, die Entstehungszeit in eine nachchristliche Epoche versetzen zu müssen, in der Voraussetzung, dass es ein vorchristliches Christentum nicht geben könne. Wahrheit war zu allen Zeiten Wahrheit, und ein erlösendes Prinzip, ein Christusprinzip war zu allen Zeiten, wenn es auch erst durch den Mensch gewordenen Gott Allen zugänglich gemacht wurde.
Was Christus lehrte, ist nicht deshalb wahr, weil er es lehrte, sondern er lehrte es, weil es die Wahrheit ist, andern¬falls hätte die ewige Wahrheit einen zeitlichen Anfang.
Man tut aber nicht recht, wenn man, wie dies jetzt so oft geschieht, über dem, was aus dem Osten kommt, das vernachlässigt, was auf heimischem Boden erwuchs. Wer nicht nur mit dem Verstande zu lesen vermag, wird durch einen Gang zu unseren deutschen Mystikern des 14. Jahrhunderts herrlich belohnt werden. Es ist die schöne zarte Blume der mittelalterlichen Gottesminne, die sich da erschließt, und der Leser wird finden, dass darin, um mit J.V. Scheffel zu reden, „Von der Finsternis, die bekanntlich über dem ganzen Mittelalter lastete, im Einzelnen nichts wahrzunehmen ist“.
Das Mittelalter selber gewinnt aber auch erst unser Verständnis durch das, was es hervorgebracht, und seinen Geist vermag nur der zu verstehen, der den absolut mystischen Zug mittelalterlicher Kunst und Literatur erfasst hat.
Dort, im 14. Jahrhundert, lebte Ruysbroeck, und was er schrieb, steht in harmonischem Einklang mit dem was die Besten seiner Zeit auf künstlerischem Gebiet hervorbrachten, und ergänzt sich mit diesem zu einem lebendig er¬freulichen Bilde des Zeitalters, das man gedankenlos oder böswillig, jedenfalls mit Unrecht, ein dunkles nennt. An die Spitze seiner zahlreichen Schriften ist unbedingt
„Die Zierde der geistlichen Hochzeit“ zu stellen, die kunstreichste mystische Schrift der germanischen Mystik des Mittelalters, ein wahrhaft architektonisches Ge¬bäude.
„Siehe, der Bräutigam kommt, gehet aus, ihm entgegen!“ Dieser beliebte Text der Mystiker, über den auch Tauler seine berühmte Predigt gehalten, ist der Text dieser Schrift, in der jedes dieser vier Worte nach den Ständen des mystischen Lebens ausgelegt wird.
Das erste ist das Wort „Siehe“, worin Ruysbroeck die Bedingung der Mystik von Seiten des Subjektes in‘s Auge fasst, während er im zweiten Worte „Der Bräutigam kommt“ das Objekt hinstellt, den Gegenstand oder Vorwurf, wie er dem sehenden, sich hingebenden Subjekt entgegenkommt. „Gehe aus“ ist das dritte Wort, das die Tätigkeit des Subjektes in Bezug auf das Objekt besonders betrachtet, wie das vierte Wort „ihm entgegen“ das Objekt in seinem Zusammentreffen mit dem Subjekt. - Diese vier Momente betrachtet er nun im wirkenden (1. Buch), im innerlichen (2. Buch) und im schauenden Leben (3. Buch), so dass das Werk in diese drei Hauptteile, und jeder Hauptteil in die vier Unterabteilungen zerfällt. –
So baut Ruysbroeck, den inneren Werdegang darstellend, in den drei Stufen des geistlichen Lebens, dem wirken¬den Leben, dem innerlichen Leben und dem schauenden Leben (Reinigung, Erleuchtung, Vollendung), einen Dom auf, dessen architektonische Gliederung jener der feinsinnigen Kunstwerke seiner zeitgenössischen idealen Kollegen, der Baumeister und Steinmetzen, entspricht, die ihrerseits den gleichen Werdegang in ihren steinernen Kathedralen symbolisieren.
Die Art, wie die gotische Baukunst die mystische Grundidee ausdrückte, und die Systematik, mit der sie dabei zu Werke ging, ist ganz ruysbroeckisch, oder die Art Ruysbroeck‘s ganz gotisch.
Die Leser, die sich mit der Gralsage, diesem „in die Poesie des Rittertums übersetzten Katechismus der christli¬chen Mystik“, beschäftigten, werden sich erinnern, daß vom Leben am Artushof sich einzelne Ritter Urlaub erbit¬ten, „den Gral zu suchen“, wie diese dann ausziehen, Kämpfe und Fährlichkeiten bestehen, und schließlich einer von ihnen, Parzival (per se valens?), den Gral erreicht. Auch hier liegt die Idee der drei Stufen des Werdeganges der Ritterschaft zu Grunde: das Leben am Artushof als das „wirkende Leben“, die Gralsuche als das „innere Leben“ und das Erreichen des Grals als das „schauende Leben“, die Vollendung. In einer Dichtung nun aus dem großen Zyklus der Gralromane, im „Titurel“ des Alfred von Scharfenberg, wird der Graltempel auf Montsalvatsch bis in‘s kleinste Detail als ein gotischer Bau beschrieben.
Es ist dies bemerkenswert, weil es zeigt, daß dieser Dichter des 13. Jahrhunderts den inneren Zusammenhang der Gotik mit der Mystik sehr wohl gekannt hat. Der Himmel selbst half, wie es heilst, beim Bau. Wer aber zum Graltempel gelangt war und im Staunen ob dem Wunderbau stehen blieb, ohne nach der Bedeutung des Wunders im Wunder zu fragen, dem blieb das Geheimnis des Grales unerschlossen. Wie die Gotik die drei Stufen der mystischen Entwickelung versinnbildlicht, welche Gesichtspunkte sie bezüglich der Zahlensymbolik u. s. w. leiten, das nachzuweisen würde einen Band füllen.
Ich möchte nur auf das, sich aus der Wechselbeziehung zwischen Religion und Kunst ergebende Resultat zur Beurteilung mittelalterlichen Lebens hinweisen, und, um nach dieser Seite anzuregen, eine· kurze Skizze versuchen.
Man betrachte den Langbau, das Schiff eines Domes.
Durch die sich nach innen verengenden (Vertiefung) reich geschmückten Portale, über denen die Rose (Symbol der Verschwiegenheit) prangt, betreten wir den der Menge der Gläubigen zugänglichen, einem Jeden erreichba¬ren Innenraum, der sich nach Länge und Breite (Zeit und Raum) in Kreuzform ausdehnt.
Dieser umfängt den Christen mit der. Geheimnisvollen Lichtwirkung, welche die bunten Glasgemälde in den hohen, maßwerkgeschmückten Fenstern verbreiten. (Die Gemälde deuten auf das himmlische Jerusalem.) Eine Welt von Heiligenbildern an den leichtaufstrebenden Pfeilern lenkt den Blick auf sich, die Gedanken abziehend von der Außenwelt.
Der Rhythmus des sich in allem Detail aussprechenden und überall und immer wiederholenden sursum corda bemächtigt sich des Gemütes, es erhebt sich, das Auge murs folgen und, an der feinen Profilierung der Pfeiler hinaufgleitend, strebt es empor bis zum hohen Gewölbe, dessen Netzwerk ihm eine Grenze setzt. Noch ist dem Streben der Seele, die in dem Schiff der Kirche, d. h. auf der Stufe des wirkenden Lebens weilt, eine Grenze nach oben gesetzt. Der Blick dringt nicht durch das Gewölbe und bleibt haften an dessen Sternen (dem Symbol der Hoffnung).
Eng und logisch mit dem Langbau verbunden, ein unzertrennbares Ganzes mit ihm bildend, ragt der Turm empor, wie das innere Leben sich aus dem äußeren folgerichtig entwickelt und es überragt. Der Turm hat nicht Weg noch Raum für die großse Menge, nur Einzelne von den vielen Berufenen sind auserwählt, den mühsamen Aufstieg auf den Turm des inneren Lebens zu suchen und zu finden. (Einzelne begeben sich auf die Gralsuche!) So ist denn auch hier nicht mehr der breite Raum, sondern die schmale Spindeltreppe; die breite Fläche ist nicht mehr das Motiv, sondern Höhe und Tiefe. Der Weg des inneren Lebens ist Erhöhung durch Vertiefung, er führt hinauf über das breite Niveau der Erscheinung in einsamem schweigenden Wandeln, und vertieft durch innere Konzentration in die ewige Wahrheit und die Wesenheit, die den Formen und Symbolen der Erscheinung zu Grunde liegt. Je mehr der Turm nach oben wächst, desto mehr überwindet die Architektur das Lastende, Stoffliche, desto mehr durchgeistigt und verfeinert sie die Masse des Steines; so auch muss der „innerliche“ Mensch, von der Kraft und Sehnsucht des Minnedranges nach oben getrieben, alles Haften und Kleben am Kreatürlichen, alles Eigene, alles persönliche Wollen, Denken und Erinnern abstreifen und überwinden.
Wo aber