Die Monate nach dem GAU von Tschernobyl waren die schlimmsten in seinem Leben. „Beruhige dich, Schatz. Wir haben hier keine erhöhten Werte“, er zeigte seiner Frau den Geigerzähler. “Man muss nur bei Lebensmitteln aufpassen. Du darfst dich nicht verrückt machen lassen.“ „Deine Messungen kannst du dir sparen“, brach sie in Tränen aus, „ich bin ganz zufällig von dir schwanger. Willst du ein behindertes Kind haben?“ „Das Semester hat gerade begonnen, ich habe Pflichten.“ „Willst du damit beweisen, dass du gegen die Strahlung immun bist? Dann verschwinde ich allein nach Portugal. Nichts wird mich davon abbringen.“
Sein Assistent, der eine Internationale Sommerschule für junge Physiker vorbereiten sollte, hatte gekündigt und floh Hals über Kopf nach Teneriffa. Castorp musste seine Aufgaben übernehmen und war den ganzen Sommer mit der Organisation beschäftigt.
„Stimmt das mit der Klimakatastrophe?“ Beinahe verschlug es ihm die Sprache, als sich die Stimme am Telefon als Rudolf Augstein zu erkennen gab. Castorp musste blitzschnell einschätzen, worauf der Herausgeber des Spiegel nun hinaus wollte.
„Jedenfalls muss der Ausstoß des CO2 drastisch reduziert werden, wenn wir nicht eine neue Sintflut bekommen wollen. Sauberer Strom“, rutschte es ihm beinahe unfreiwillig aus, „ist nur über Kernspaltung zu haben. Aus Sicht des Klimaschutzes gibt es keine bessere Technologie. Ungeachtet des Super-GAUs in Tschernobyl wage ich das zu behaupten. Allerdings steckt das wissenschaftliche Verständnis des Klimageschehens noch in seinen Anfängen“, ergänzte er selbstvergessen. „Ich meine, man sollte viel mehr für die Klimaforschung tun.“
„Für die Forschung? Können Sie aber bestätigen, dass die steigende Verbrennung fossiler Treibstoffe zu einer dramatischen Erderwärmung führen wird?“
„Wenn nichts geschieht, wird viel passieren.“
„Wunderbar! Wenn wir keine Katastrophe ankündigen, wird uns niemand glauben. Wir werden damit die Gesellschaft aufrütteln.“
Auf der Titelseite des neuen Spiegel sah Castorp am nächsten Montag den Kölner Dom in den Fluten der Nordsee versinken. Die Überschrift lautete: „Klimakatastrophe!“.
„Das Desaster...“, las er im Artikel, „der weltweite Klima-GAU... verheerende Klimakatastrophe“. Er wurde als Experte ausführlich zitiert und seine Einschätzung von einer drohenden Gefahr für die Menschheit als Aufruf zu globalem Klimaschutz gefeiert. Ihm hämmerte es an den Schläfen.
Nach seinem Diplom hatte sich Robert erfolgreich für ein Doktorandenstipendium beworben. Wenn alles gut ginge, würde er in zwei-drei Jahren eine Promotion über den Thorium-Reaktor abschließen. Robert befand sich scheinbar auf einem sicheren Weg, als plötzlich alles ins Wanken geriet. Seine Freundin verließ ihn. Das sogenannte friedliche Atom sei eine Ausgeburt des militärisch-industriellen Komplexes. Außerdem würde er früher oder später verstrahlt und werde keine normalen Kinder zeugen können. Dann flog der Reaktor in Tschernobyl in die Luft.
Er sah die Grafitstäbe offen auf dem Dach des explodierten Reaktors liegen, Männer, die ohne Schutz und mit bloßen Händen hochverstrahltes Material einsammelten, Kinder, die auf einer 1. Mai-Demonstration in Kiew an festlich geschmückten Tribünen vor Parteibonzen vorbei marschierten. Fast physisch spürte er eine unsichtbare radioaktive Wolke, durch welche die ahnungslosen Menschen getrieben wurden.
Es hatte keinen Sinn, dämmerte es Robert, die Menschheit mit einer unerschöpflichen Energiequelle beglücken zu wollen, wenn sie dadurch ausgelöscht wurde. Solche Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er bat seinen Professor um ein Gespräch. Castorp ahnte, worum es Robert ging. Er war nicht sein einziger Student, der sich von der Kernforschung abwandte.
„Ich glaube nicht mehr daran, dass die Atomkraft beherrschbar ist. Ich habe ein schlechtes Gewissen.“ So fingen sie alle an.
„Unsere Reaktoren sind die sichersten in der Welt,“ entgegnete ihm Castorp.
„Und sie werden mit der Zeit noch sicherer.“
“Nach Tschernobyl hört sich das alles wie Gesundbeterei an, entschuldigen Sie, Herr Professor.“
„In Tschernobyl hat das System versagt. Ich sage dir, der Russe ist am Ende. Dem ist das Dach weggerissen worden.“
Robert schüttelte den Kopf.
„Ist dir überhaupt bewusst, was du da machst?“, Castorp schaute ihn eindringlich an.. „Du stiehlst dich aus der Verantwortung gerade in einem Augenblick, in dem wir dich brauchen. Du desertierst aus der Forschung. Bei den `schnellen` Reaktortypen der neuen Generation wird sich das Problem der radioaktiven Verseuchung gar nicht mehr stellen. Sie hinterlassen keinen Abfall, der lange strahlt. Man darf das Kind doch nicht mit dem Bade ausschütten. Ausgerechnet Tschernobyl könnte solchen Alternativen weltweit Auftrieb geben. Reaktoren, die den Atommüll als Brennstoff benutzen, ihn wiederverwenden, werden in vielleicht schon absehbarer Zeit entwickelt. Überleg es dir noch einmal. Es wäre schade, wenn du die Forschung aufgeben würdest.“
Das Grab von Roberts Schullehrer auf dem Klosterfriedhof war aufgeräumt, in einer Vase stand ein frischer Blumenstrauß.
„Lehrer, weißt du noch, wie du mich an die Uni verabschiedet hast? `Du bist mein ganzer Stolz, Robert,` hast du gesagt. `Ich wollte auch Forscher werden. Du hast ein Wahnsinnsglück. Lerne für mich, bring die Wissenschaft weiter.`“
„Lehrer, nun bin ich Wissenschaftler geworden. Aber ich will Schluss damit machen. Es gibt kein friedliches Atom, es kann den Menschen sogar viel Leid bringen.“
„Das Leid kommt von der Politik, nicht von der Wissenschaft.“
„Nein, die Hölle von Tschernobyl, du kannst dir das nicht vorstellen.“
„Mit der Hölle kenne ich mich aus, mein Junge. Wo willst du denn jetzt hin?“
“Ist doch egal. Ich gehe vorerst zum Strahlenschutz, zu einer Behörde.“
„Das ist doch nichts für dich. Da braucht man nur Messgeräte. Du wirst dich noch fangen, Junge, ich glaube an dich. Hauptsache, du lässt dich nicht verbiegen, egal von wem.“ Robert sprengte Weihwasser auf das Grab und stieg vom Kloster zum Krebsbach hinab. Er verweilte an der Stelle, wo seine Klasse immer Lagerfeuer gemacht hatte. Vom Feld hörte er das Geläut von Kuhglocken. Im seichten Wasser kämpften Forellen gegen die Strömung.
Beim Amt für Strahlenschutz hatte Robert sich schell bis zum Abteilungsleiter hochgearbeitet und konnte sogar Ilma unterstützen, die mit ihrer Rente kaum über die Runden kam. Er hatte einen Bausparvertrag abgeschlossen. Alles schien in geordneten Bahnen zu laufen, bis er ganz zufällig seiner einstigen Freundin an der Sicherheitsschleuse des Münchener Flughafens begegnete.
„Ich hatte doch recht, die Atomindustrie ist am Ende“, küsste sie ihn auf die Lippen.
Robert erzählte ihr von seinem Wechsel zum Strahlenschutz und vom Bausparvertrag.
„Das ist doch total öde!“ rief sie. „Willst du als Spießbürger in Schwabing auf die Rente warten?“ Robert zuckte mit den Schultern. „Komm lieber mit mir nach Afrika. Dort sitzen sie auf dem Land komplett im Dunklen. Wir wollen Solaranlagen im Delta installieren. Briten, Spanier – alle sind dabei. Aber uns fehlt ein Fachmann für Logistik.“
„Ich bin aber keiner“, entgegnete Robert defensiv.
„Physiker seien die besten Logistiker, hat man uns an der Uni immer gesagt, wir Ingenieure seien zweite Wahl. Ich meine das ernst. Wenn du etwas Sinnvolles tun willst, komm zu uns. Reiche Länder, die über ihre Verhältnisse leben und andere ausbeuten, sind verpflichtet, den Afrikanern Entwicklungschancen zu bieten. Dort mangelt es an allem: an Strom, sauberem Wasser, Nahrung. Wir werden erneuerbare Energien in die Dritte Welt bringen.“
Sie hatte ihm ihre Visitenkarte in die Hand gedrückt. „Ich halte von dir wirklich viel“, sagte sie beim Abschied. „Du siehst ja selbst, worauf das alles hinausläuft.“
Robert öffnete die Augen und sah