„Was wird mit den Pilgern geschehen?“
„Das ist es ja. Sie sollen zu Fuß zur Eisenbahn laufen. Das ist nicht weit, um die 15 Kilometer, aber ohne Wasser – und mit Behinderten...? Und was wird, wenn die Züge überhaupt nicht mehr fahren? Deshalb zögere ich. Aber je länger ich mit der Entscheidung zögere, umso schlimmer können dann die Konsequenzen sein. Hast Du schon einmal ans Ende gedacht?“ fragte der Abt plötzlich.
Dawydow schmunzelte.
„An alles Mögliche habe ich in der Zelle gedacht.“
„Ich wollte dich schon immer fragen: Hast du Alexander Men`* beseitigen lassen?“
„Men`?“ reagierte Dawydow verwundert. „Ach, Men`... Hm, das war gerechtfertigt. Wir befürchteten damals, er könnte zu einem charismatischen Glaubensführer heranwachsen. Als Jude und christlicher Hirte in einer Person hätte er die nationale Identität der Russen schwächen können. Findest du nicht?“
„Ein schöner Mann war er, schön wie König Salomon.“
„Seit wann bist du scharf auf Männer?“
„Ich bin nicht scharf auf Männer, ich liebe Schönheit. Weißt du, was traurig ist? Seit Jahrzehnten halte ich Liturgien ab. Und jedes Mal bin ich von der Schönheit des Gesangs überwältigt, bis zu Tränen gerührt. Aber Glaube, Spiritualität, an die müsste man andersherum herangehen. Ohne Frömmigkeit gibt es kein Christentum. Ohne Spiritualität bleibt davon nur ein hohles Ritual übrig. Und woher sollte sie auch kommen? Ich habe das Fleisch geliebt. Das mit den Frauen war am schlimmsten. Es gab Zeiten, da konnte ich Ikonen nicht küssen...wie ein hysterisches Weib. Mein Wort. Dann wurde ich abgebrüht, habe ein dickes Fell gekriegt.“
„Ich hatte von meinen Ausschweifungen am Ende auch nichts“, gestand Dawydow. „Nicht einmal Kinder. Ich schätze, ein paar habe ich schon gezeugt, aber ihre Mütter fürchteten, dass ich sie ihnen wegnehmen würde. Ich war ihnen zu mächtig, zu unheimlich. Damals habe ich diese Wirkung genossen.“
Beide wussten, dass der Austausch von Erinnerungen nur dazu diente, das schmerzhafte Geld-Thema aufzuschieben. Anders als früher verlief das Gespräch nicht entspannt, und angesichts dessen, was sich da draußen abspielte, waren die Bekenntnisse der beiden Wüstlinge irgendwie peinlich. Aristarch spürte das.
„Glaubst du also, dass es falsch gewesen ist, auf die orthodoxe Kirche zu setzen? “ fragte der General verdutzt. „Wie hätten wir sonst ein nationales Selbstbewusstsein fördern sollen?“
„Was heißt hier falsch? Wäre die Kirche das, was sie dem Volk predigt, müssten wir kein Wort weiter darüber verlieren. So aber siehst du ja selbst.“ Der Abt zeigte auf den Kühlschrank, in dem Flaschen mit kostbarem Wasser standen. „Christus hat fünf Brote unter das Volk ausgeteilt, wir werden aber zu zweit diesen Sprudel austrinken, während die da vor Durst durchdrehen... Das Allerschlimmste in der Kirche – das sind wir, das bin ich: Jene, die zur Kirche kamen, weil sie schlecht waren.“ Seine Stimme stockte. „Und das Schönste, dem ich in der Kirche begegnet bin, war Christus. Ich begegnete ihm, und Er hätte mich sich selbst ähnlich machen können. Aber ich suchte in der Kirche nach anderen Dingen und Er hat mir den Rücken zugekehrt.“ Er schmunzelte bitter. Dawydow schaute ihn perplex an. „Daran ist nichts mehr zu ändern“, fuhr der Abt fort. „Das einzige, was mir weh tut, das ist, dass meine Kinder an mir zerbrochen sind. Manchmal, wenn ich Neugeborene ins Taufbecken tauche, kommt es mir vor, als seien sie meine Enkel.
Als der Geheimdienst mich mit den Kirchenangelegenheiten beauftragte, war ich noch ein grüner Bursche. Da lernte ich einen älteren Offizier kennen, der für die Synagogen zuständig war. Er fragte, ob ich schon Kinder hätte.
`Wozu Kinder? Ich bin noch jung, ich denke gar nicht daran.` `Um sich auf die Enkel vorzubereiten. Dafür braucht man mindestens vierzig Jahre, du solltest dich beeilen`. Und er schaute mich so an, allwissend. Die Familie ist die natürlichste Sache der Welt. Das verstehen eben die Juden schon von alters her.“
Aristarch starrte nachdenklich in die Leere.
„Selbst dein Geschäftsführer hat das verstanden.“
Dawydow horchte auf: „Meinst du etwa Nikolaj Platonow?“
„Wen sonst? Was bist du denn so aufgeschreckt?“
„Nein, bin ich nicht. Ich habe mich nur gewundert. Von wem weißt du das denn?“
Aristarch zuckte die Schulter. Platonow hat also den Anschlag überlebt, schoss es Dawydow durch den Kopf. Der Killer hatte ihn, den Auftraggeber, schlicht hinters Licht geführt. Mehr noch, sein einstiger Untergebener führte ein gesittetes Leben – und ihm war das alles entgangen. Dawydow kostete es einige Anstrengung, dem Abt nicht zu gestehen, dass Platonow eigentlich mausetot sein müsste.
„Gleich beginnt die Mitternachtsmesse. Hoffentlich kommt es nicht zu einem Tumult. Die Menschen verlieren den Verstand.“
„Ich muss es endlich aussprechen. Es wurde genug um den heißen Brei geredet.“
„Du bist wegen deiner Schulden da“, kam Aristarch ihm zuvor.
Dawydow nickte: „Du sagst es. Ich habe diese Ungewissheit nicht mehr ausgehalten. Ich weiß, dass du mir meine Aussage gegen dich im Prozess übel nimmst. Würde ich auch an deiner Stelle.“
Im selben Augenblick setzte auf dem Glockenturm ein panisches Sturmläuten ein. Der Abt wechselte die Farbe und rannte hinaus. Dawydow folgte ihm. Der Himmel brannte lichterloh. Ein orkanartiger Wind blies einen riesigen Feuerball über das Weizenfeld auf das Kloster zu.
Atempause
Gerade hatte sich Robert beim Googlen vertippt und war in einen Blog geraten, in dem die Kunst des Rauchringemachens besprochen wurde. „mach dir erstmal ne ordentliche shisha an, wo der rauch schön dicht wird, suche dir dazu ein windstilles plätzchen. inhaliere den rauch so, dass du genügend in deine lunge hast um zuerst was auszublasen. und dann hörst du kurz auf mit pusten, lässt dein mund ein "O" formen und mit dem rauch, den du im mund hast, machst du ein ring – indem du entweder dein kifer nach oben bewegst, oder du machst einen ganz leichten luftstoß aus der lunge bzw. dem rachen, ähnlich wie beim husten, aber ganz ganz leicht.“
Er schmunzelte über die ausführliche Gebrauchsanweisung und versuchte doch, ihr zu folgen. Und siehe da, es klappte sofort. Robert stützte sich auf das Balkongeländer und ließ genüsslich einen Rauchring in die Luft steigen.
Nebenan stand ein Jugendstilhaus mit einer von Efeu dicht bewachsenen Fassade. Robert hörte ein weibliches Lachen, schaute hinab und sah einen männlichen Rücken in der Loggia. Der Mann drückte eine vor ihm stehende Frau an sich. Sie versuchte, seiner Umklammerung zu entschlüpfen, er jedoch ließ das nicht zu. Der Scheinkampf schien ihr Vergnügen zu bereiten, und sie umschlang seinen Hals. Eigentlich geschah gar nichts Besonderes, und doch kostete es ihn einige Mühe, seinen Blick von dem Pärchen abzuwenden.
Im letzten Jahr hatte Robert überhaupt nicht mehr gewusst, wie ihm geschah, und er kam sich wie ein abgehetztes Tier vor. Erst vor zwei Wochen hatte er endlich eine Stelle am Institut für Klimawandel bekommen und war in eine Dreizimmerwohnung im obersten Stock eines Neubaus aus den 50er Jahren ohne Aufzug, dafür aber in Schöneberg gezogen.
Anfangs hatte Robert ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, seiner aus Afrika stammenden Frau das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter Marlene zu entziehen. In diesem Fall, erläuterte sein Anwalt, bestünde die Möglichkeit, dass Claire des Landes verwiesen werde. Andernfalls jedoch lief er selbst Gefahr, von ihr finanziell ausgenutzt zu werden und dazu noch den Kontakt zu seinem Kind zu verlieren. Robert stimmte einem Verfahren dennoch nicht zu. Er sei zu naiv, versuchten ihm seine Freunde klar zu machen. Claire werde seine Großzügigkeit