Wir lachten. Nur einer nicht.
„Ich spiele nicht mit!“, druckste er herum und machte eine eiserne Mine. Es war Tatjanas mürrischer Tanzpartner.
Maria verstand nicht, warum er diese Chance nicht nutzen wollte.
„Wieso? Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Wir erzählen auch niemandem davon. Sei nicht so ein miesepetriger Stockfisch.“
„Ich habe keine Angst vor euch!“, schoss es aus ihm heraus. Der Alkohol lockerte auch seine Zunge.
Plötzlich lag eine ganz andere Stimmung, etwas Ernstes in der Luft.
„Was dann?“, hakte ich neugierig aus.
„Ich küsse keine Deutsche!“
Das schlug ein! Stille breitete sich aus. Die Stimmung war dahin. Dieser unverfrorene Kerl. Was erlaubte er sich?
Im gleichen Moment ertönte lautes Glockengeläut. Es war ein Achtungszeichen.
Verdutzt hörten wir alle auf den Klang.
Die Tür wurde aufgerissen. Ein Kadett stürmte in den Raum.
„Kommt sofort mit, man sucht euch schon!“, rief er diesen zu. „Wir werden neu vereidigt!“
Erst jetzt gewahrte er uns drei Romanow-Prinzessinnen.
Er nahm Haltung an.
„Der Zar hat abgedankt!“
Der Abend des 16. Juli 1918
Seit April wohnten wir bereits im Haus des Militäringenieurs Ipatjew in Jekaterinburg. Die Bolschewiken hatten es extra beschlagnahmt, um uns hier unterzubringen. Die Villa war relativ geräumig, weiß, von klassizistischem Stil und befand sich am Rande der Stadt. Ihre eigentliche Schönheit wurde jedoch durch einen riesigen Bretterzaun und drei bedrohliche Maschinengewehre auf dem Dach verschandelt. Die Fenster hatten die Rotgardisten zudem mit weißer Farbe getüncht, damit niemand uns, die unglücklichen Gefangenen, sah. So verlieh man dem wundervollen Bau äußerlich den Charme einer Baracke.
Sie war somit zu unserem Gefängnis umgestaltet worden. Da sowohl dreißig Bewacher als auch die Dienstboten darin ebenfalls untergebracht waren, standen meiner Familie nur sehr wenige Zimmer zur Verfügung. Das ließ alle Mitglieder noch enger zusammenrücken. Wir waren eine kleine Insel inmitten eines feindlichen Meeres.
Eine Einheit feindseliger Rotgardisten hatte uns von Tobolsk aus hierher gebracht, nachdem die aufständischen Kosaken die Roten aus Sibirien zu vertreiben drohten. Die aufkeimende Hoffnung auf Befreiung zerschlug sich so für uns. Wir waren unseren Bewachern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. 78 Tagen lebten wir nun hier. Angst und heimliches Hoffen bestimmten unseren Alltag. Jeden Einzelnen davon hatte ich gezählt.
Rasputins Voraussagen erwiesen sich als richtig. Seit seinem Tod hatte sich unsere Lebenssituation kontinuierlich verschlechtert. Papa hatte Rasputin nicht gerächt und dessen Mörder lediglich aus Petersburg verbannt. Die Deutschen schlugen unsere Armeen und in Russland brach die Revolution aus. Wir Romanows waren zu Gefangenen im eigenen Land geworden und Papa hatte abgedankt. Anstelle einen Prinzen zu heiraten, flickte ich die Socken oder Fußlappen unserer Bewacher. Fast alle unsere Verwandten waren ebenfalls inhaftiert oder sogar ermordet worden. Russland hatte inzwischen unter den Bolschewiki den Krieg ganz verloren und einen erniedrigenden Friedensvertrag mit den Deutschen geschlossen, der diesen große Teile Russlands und die gesamte Ukraine überließ.
Lenin und seinen roten Kumpanen hatte der Krieg aber trotzdem viel gebracht. Die Deutschen bezahlten ihn und er festigte mit dem deutschen Gold seine eigene Macht in Zentralrussland. Er war diesen ohnehin dafür dankbar, dass sie ihn 1917 über Finnland nach Russland eingeschleust hatten. Nur so hatte er zum Führer der proletarischen Revolution aufsteigen können.
Papa hatte, obwohl er gar nicht mehr Zar war, den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit unterzeichnen müssen. Das Deutsche Reich hatte darauf bestanden. Mama meinte, dass sich der deutsche Kaiser, unser Großonkel, dadurch nur versichern wollte, dass wir überhaupt noch lebten. Unser Leben war eine der deutschen Bedingungen für diesen schandvollen Vertrag gewesen. Die Verwandtschaft mit dem deutschen Kaiser hatte uns bisher offenbar gerettet.
Durch eine geheime Nachricht des kaiserlichen Botschafters, des Grafen von Mirbach-Harff, erhielten wir vor einiger Zeit die Mitteilung, dass der deutsche Kaiser bereit war, wirklich alles für unsere Befreiung zu tun und ein Sonderkommando beauftragen wollte. Leider weigerte Papa sich, diese Hilfe zu akzeptieren. Wilhelm der II. tat es ohnehin wohl mehr für Mama als für seinen Cousin. Man munkelte, dass der Kaiser noch immer unsere Mutter liebte. Auch er hatte einst um die Hand meiner Mutter angehalten. Diese hatte sich jedoch für unseren Vater entschieden, obwohl alle Seiten dagegen waren.
Zu groß war bis heute Papas Enttäuschung über den Verrat des deutschen Kaisers. Dieser hatte Russland 1914 den Krieg erklärt. Vater wollte lieber sterben, als sich von Wilhelm dem II. helfen zu lassen.
Mamas eindringliche Bitten, hier an die Kinder zu denken, nutzten nichts. Sein Stolz stand ihm leider im Wege. Mama wiederum vermochte ihren Gemahl nicht zu verlassen und schlug eine von Lenin in Aussicht gestellte eigene Ausreise mit allen Kindern ebenfalls aus. Sie liebte ihren Mann. Lenin hatte dem Berliner Kaiser angeboten, alle deutschen Familienmitglieder ins Reich zu schaffen. Nur unseren Vater wollte er richten. Dieser war für ihn an allen Problemen Russlands schuld. So waren wir Gefangenen in unserem Schicksal fest aneinander gebunden.
Erst die Nachricht von der Erschießung unsers Onkels Michail vor einem Monat ließ Papa seine Haltung ändern. Zuvor hatte er offensichtlich nicht wirklich geglaubt, dass man ihn und auch uns ermorden wollte. Er kannte sein Russland nicht.
Leider wurde der für uns agierende Graf von Mirbach-Harff am 07. Juli durch ein Attentat in Moskau ermordet. Dadurch schien ein gutes Ende nun nicht mehr möglich. Mama rechnete durch Rasputins Prophezeiung mit dem Schlimmsten und versuchte uns mit religiösen Gesprächen Mut zu machen.
Papa und ich wussten, dass sie dem Glauben zum Trotz die Kapseln dabei hatte. Das angeblich wunderschöne Himmelreich stand also doch hinter dem Leben hier zurück. Sie trug sie an ihrer Brust, sodass es selbst Papa nicht gelang, ihr diese zu entwenden. Er war der Meinung, das Blut wäre die größte aller Sünden. Der Tod wiege dagegen leicht.
Was gab es da noch zu sagen?
Seit Rasputins Ermordung und der gemeinsamen Fahrt in die geheime Schatzkammer hatte Mama nicht mehr mit mir über die Ampullen gesprochen. Für wen sie die zweite bestimmte, wusste ich nicht. Das blieb bis jetzt ihr Geheimnis. Ich verstand jedoch, wenn sie mir das Mittel gab, war unser Tod nah.
Unser Bruder würde wohl nie ein Zar werden. Vielleicht war das auch besser so. Das böse, hinterhältige und grausame Russland verdiente einen so guten Menschen wie ihn ohnehin nicht.
Wir bekamen inzwischen nur noch das gleiche Essen wie die Bewacher. Diese Gleichmacherei gehörte zu unserer Erniedrigung. Das Abendessen war zwar auch heute karg und einfach, jedoch hatte der freundliche Koch den Wunsch meiner jüngeren Schwester, Maria, erfüllt und zusätzlich russische Plinsen mit Apfelstückchen in der Pfanne gebraten. Solche Abwechslungen waren selten geworden. Er konnte sich dadurch schnell den Ärger des neuen Kommandanten zuziehen.
Ljoschka und ich hatten die Plinsen bisher noch nicht angerührt. Mein Bruder mochte sie gar nicht und ich hatte mir die Leckerei für den Schluss aufgespart.
Pawel Medwedew, der die Außenwachen befehligte, trat in den Raum, der uns als Esszimmer und Wohnzimmer gleichzeitig diente. Seine Augen musterten unseren Tisch. Interessiert schaute er auf die Küchlein und strich nachdenklich über sein stoppeliges Kinn. Sein Gesichtsausdruck wurde gierig, er sagte jedoch nichts. Man ahnte aber, dass er selbst gern ein solches Küchlein gegessen hätte.
„Herr Kommandant, dürfen wir Ihnen eine Plinse anbieten?“, fragte ich diesen direkt.
Papa nickte anerkennend und Mama lächelte