Als diese sich weigerten, die Waffen abzugeben, beschlossen die Rotarmisten alle Verweigerer zu erschießen. In einem Sturm der Entrüstung erhoben sich darauf die kriegserfahrenen tschechischen Einheiten und schmetterten ihre weniger erprobten Gegner nieder. Tschechen und Weißgardisten hatten sich verbündet und kämpften nun gemeinsam. Niemand hatte das bis vor Kurzem für möglich erachtet.
Es schien fast so, als würde es den Angreifern gelingen, Jekaterinburg zu befreien. Sie attackierten nun die Stadt und damit unser Gefängnis. Das war gewagt.
Mit diesem unerwarteten und schnellen Vorstoß hatten die Bolschewiken und auch wir nicht gerechnet. Die Revolutionäre glaubten immer alles besser zu wissen und hatten ihren Gegner offensichtlich unterschätzt.
Wurden wir vielleicht doch noch im letzten Moment gerettet? Vielleicht würden wir doch noch die ersehnte Freiheit erlangen.
„Wird er es schaffen?“, fragte Alexej mit kindlicher Freude.
Wir sahen Vater an. Der war der einzige militärische Experte.
„Unsere Bewacher sind sehr nervös. Einige werden freundlicher, als wenn sie sich mit uns gut stellen wollten. Das spricht für eine einschneidende Veränderung.“
„Aus welchen Himmelsrichtungen kommt der Donner?“ Mama wollte es genau wissen. Worauf zielte die Frage?
„Auch aus dem Westen“, antwortete Papa.
„Sie kreisen die Stadt ein und unterbrechen die Versorgungswege. Es sieht nicht gut für die Roten aus!“
Mama lief feuerrot an.
„Was bedeutet das für uns?“ Maria verstand die Zusammenhänge nicht. Sie war zu jung für militärisches Denken.
„Das heißt, dass ihre Nachschublinien unterbrochen sind und sie uns nicht mehr nach Westen abschieben können“, erklärte ich. Schließlich hatte ich selbst ein Regiment befehligt und war auch in Taktik geschult.
Ljoschka sah Papa eindringlich an. Sein Gesicht war feuerrot.
„Papa, ich will, dass du mit uns das Land verlässt, wenn wir befreit werden! Du sagst doch, ich wäre nun der Zar. Ich befehle es dir!“
Papa schaute Alexej mit feuchten Augen und voller Liebe an.
„Ich weiß, es war falsch, zu bleiben. Verzeiht mir! Diesmal komme ich mit. Es soll nicht an mir scheitern. Russland will uns nicht mehr. Ich verspreche es dir, wir fliehen!“
Wir konnten die Freude nicht mehr unterdrücken und fielen uns schluchzend in die Arme. Zum Glück sah uns niemand von den Bewachern. Ich gab Papa einen Kuss und flüsterte in sein Ohr: „Endlich!“
„Olga hat gesagt, dass sie Radola Gajda heiraten will, wenn er uns befreit“, verriet Tatjana meine kindlichen Fantasien. Nun ja, wen sollte ich sonst in dieser Zeit heiraten? Ein Held musste her. Schließlich war ich schon 21.
Alle lachten.
„Meinetwegen auch das!“, stimmte Papa zu. „Da gibt es Schlimmeres!“
„Ich nehme dich beim Wort!“, sagte ich scheinbar ernst.
„Ich weiß“, erwiderte Papa. Seine Stimme klang traurig. Er hatte mir eigentlich einen wahren Prinzen zugedacht.
Mama schwieg. Hatte sie etwas dagegen?
„Vielleicht sehen wir bald Oma wieder?“, murmelte Alexej. Er hing sehr an ihr. Sie war als Einzige von unserer Familie in Sicherheit und hielt sich in der von den Deutschen besetzten Ukraine auf.
„Lasst uns still beten“, schlug Mama vor. „Ihr wisst, wofür!“
Wir alle begannen inbrünstig und leise es zu tun. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Der Kommandant Jakow Michailowitsch Jurowski kam herein und musterte uns kritisch. Er wollte anscheinend wissen, wie seine Gefangenen den sich nähernden Kanonendonner aufnahmen. Als der Eintretende uns auf diese Weise beschäftigt sah, schloss er zufrieden die Tür.
„Fang an, Tatjana“, forderte meine Mutter, nachdem wir unsere Gebete abgeschossen hatten.
Tatjana wählte nun eines der Bücher und begann daraus vorzulesen.
Unsere Gedanken folgten aber kaum dem Text, sondern waren nach draußen gerichtet. Es klang so, als würde der Donner wirklich lauter. Vereinzelt hörte man auch weit entferntes Maschinengewehrfeuer.
Da Mama merkte, dass wir nicht so recht bei der Sache waren, schickte sie uns fort. Sie meinte, nur unsere Gebete hätten Gott dazu bewogen, General Gajda zu schicken. Wir sollten umso eifriger beten.
„Geht heute etwas früher auf eure Zimmer. Nicky und ich wollen noch etwas unter uns sein und Karten spielen.“
Die beiden nutzten solche Gelegenheiten, um in entspannter Atmosphäre über wichtige Dinge zu sprechen, welche nicht für unsere „Kinderohren“ bestimmt waren.
Papa erhob sich und umarmte jeden von uns. Als er mich küsste, flüsterte er: „Denk an den Wolf in der Ecke!“
Daran hatte ich in meiner Euphorie noch nicht gedacht. Ein in die Ecke getriebener Wolf ist besonders gefährlich. Die Bolschewiki könnten uns töten, bevor sie eine Befreiung zuließen.
Meine Hoffnung brach weg wie das Holz eines morschen Dachbodens. Für einen Moment wurde mir schwindelig und das Herz zog sich schmerzhaft und eisig zusammen. Es war dieses Gefühl, als hätte man Schwindel und fiele gleichzeitig in ein unendliches Loch. Furchtbare Angst erfüllte mich. Wir waren doch viel zu jung zum Sterben.
Alle anderen lächelte Papa an, als müssten sie nichts fürchten. Seine wirklichen Sorgen verbarg er vor ihnen. Angst schnürte trocken und kalt meinen Hals zu. Ich konnte aber mit niemandem darüber sprechen. Alle Geschwister fühlten sich für den Moment so glücklich. Man durfte ihnen das nicht nehmen. Wie schwer musste diese Last für Papa sein?
Nachdem unsere Eltern ihr Kartenspiel beendet hatten, lasen Tatjana und Mama einander vor dem Schlafen noch aus dem Buch des Propheten Amos vor. Voller Gedanken wälzte ich mich im Bett, konnte nicht einschlafen und lauschte gleichzeitig angstvoll dem Kanonendonner.
Zarenmord im Ipatjew Haus
Seit zwei Wochen hatte Jakow Michailowitsch Jurowski nun hier schon das Sagen. Er war ein widerwärtiger Mensch und voller Hass uns gegenüber. In seinem Oberlippenbart hingen immer Speisereste.
Er war von Alexander Beloborodow, dem Vorsitzenden des Uraler Gebietssowjets, zum Kommandanten ernannt worden.
Mama sagte, dass wir von ihm nun das Schlimmste zu befürchten hätten. Um seine eigentlichen Wurzeln zu vertuschen, wäre er in Deutschland vom Judentum zum Protestantismus übergetreten und dann sogar noch Bolschewik geworden. Konvertiten neigten zum Sektierertum und wären durch Übereifer zu jeder Schandtat bereit. Deswegen sind sie so gefährlich.
Gleich einen Tag nach seiner Ankunft zwang er uns, sämtlichen Schmuck abzugeben. Jedes einzelne Stück, welches wir trugen, ließ er sich vorlegen, notierte es akribisch und verschloss das Eingeforderte in einem versiegelten Umschlag. Diesen wollte er angeblich für uns aufbewahren und jeden Tag das Siegel auf Unversehrtheit prüfen. Doch wir glaubten das nicht.
Heute wurden wir plötzlich kurz nach Mitternacht geweckt und mussten alle in das große Eckzimmer neben der Vorratskammer im Keller gehen. Durch den nahenden Kanonendonner und Papas Warnung hatte ich sehr schlecht geschlafen. Im Flur stand eine Gruppe von mit Karabinern bewaffneten Soldaten. Das machte mir Angst. Nervös musterte ich ihre verschlossenen Gesichter. Einige von ihnen trugen die ungarische Uniform, verziert mit Rotgardisten-Abzeichen. Sie blickten uns teilnahmslos an. Die anderen, in der russischen Uniform, schauten weg. Unter ihnen war auch Hauptmann Pawel Medwedew, der als Kommandant der Außenwachen nach Jakow Michailowitsch Jurowski das Sagen hatte. Ich hatte ihm gestern noch ein Stück Kuchen angeboten.
Auf Papas Nachfrage, was das hier solle,