Auch dort nickt sie nach allen Seiten, dieses Mal zu den Kollegen, Staatsanwälten und Richtern hin, die sich ihrer Mittagspause und dem entsprechenden Essen widmen. Nur wenige schauen auf, denn wenn man zu viel in der Gegend umher guckt, kommt man vor lauter Grüßen nicht mehr zum Essen.
Die Kantine ist voll, offensichtlich ist heute Referendarsschulung. Die künftig erfolgreichen Juristen haben Mittagspause und sich hier ausgebreitet, was den Lärmpegel um einiges anhebt. Mit Mühe findet Max einen freien Platz an einem sonst besetzten Tisch, an dem es zwischen jungen Leuten laut und humorvoll zugeht. Sie parkt ihren Koffer auf dem Stuhl, hängt ihre Robe über die Lehne und macht sich auf den Weg zur Essensausgabe, vor der, wie könnte es auch anders sein, eine lange Schlange wartet. Max stellt sich gerade hinten an, als ihr jemand auf die Schulter tippt.
„Mensch, Max! Wir haben uns aber lange nicht gesehen ... Soll ich dir einen Platz an meinem Tisch frei halten?“ Manfred hat sein Tablett vollgeladen und ist auf dem Weg zu seinem Sitzplatz.
„Fred! Ja, das wär‘ super, wo sitzt du denn? Da hinter der Säule? Prima, ich komm‘ gleich da hin!“
Manfred ist ein alter Studienkollege. Obwohl sie beide in Münster arbeiten und beide Rechtsanwälte sind, treffen sie sich nur zufällig alle paar Monate – oder Jahre? – mal bei Gericht. Das ist wahrscheinlich die Folge ihrer unterschiedlichen Spezialisierungen, denn während Manfred, den Max kurz Fred nennt, sich auf Vertrags- und Erbrecht spezialisiert hat, ist Max ausschließlich in Sachen Strafverteidigung unterwegs. Da gibt es wenig Berührungspunkte.
„Wie geht‘s dir denn?“, fragt Max, als sie ihr Essen ergattert und ihre Sachen wieder erobert hat.
Max platziert ihre Jacke auf ihrer Robe, die wiederum auf dem dicken Aktenkoffer Platz gefunden hat, und streicht sich eine Haarsträhne von der verschwitzten Stirn, bevor sie auf den Stuhl sinkt. Sie setzt sich Manfred gegenüber. Beide sind körperlich reichlich ausladend, sodass es keiner wagt, sich an diesen für vier Personen gedachten Tisch dazu zu setzen. Vorsorglich haben sowohl Manfred als auch Max die beiden anderen Stühle mit ihren hoch aufgetürmten Sachen belegt, woraufhin sie nun praktisch für sich sind.
„Puh, es ist wirklich heiß heute!“
„Besonders, wenn man zusätzlich noch eine Robe anhat“, nickt Manfred.
„Die ist noch mein geringstes Problem“, meint Max leichthin. „Man muss ja auch nicht so ein Tigerfell tragen wie du.“ Sie wirft einen Blick auf den dicken schwarzen Stoff, der Manfreds Klamottenberg auf dem Stuhl neben ihm krönt.
„Da investiert man eben mal ein bisschen was und kauft sich ein leichtes Sommermodell mit hohem Tragekomfort, knitterfrei!“, erklärt sie und hebt den herunterhängenden Ärmel ihrer Robe zur Demonstration kurz an.
„Federleicht und hauchdünn. Die kannst du notfalls sogar in den Aktenkoffer knüllen, und sie kommt 1A wieder heraus.“
„Habe ich mir gleich gedacht“, brummt Manfred, während er das Essen auf seinem Teller sortiert. „Du musst ja immer was Besseres haben. Wahrscheinlich hast du deinen Namen in Gold einsticken lassen. Was hast du denn dafür hingeblättert, ein paar Tausend?“
„Na ja, so ungefähr“, lacht Max. Sie zeigt mit einem Handgriff ihren goldgestickten Namenszug im Inneren der Robe vor. „Ist doch klar, dass sowas nicht für hundert Euro zu haben ist.“
„Nichts für einen treu sorgenden Familienvater“, kommentiert Manfred. „Guten Appetit übrigens!“
„Danke gleichfalls! – Und ich glaube übrigens nicht, dass du in Armut verhungerst ...“
Manfred grinst. „Sehe ich so aus?“
Auch Max muss lachen.
„Wir beide haben Glück, dass wir nicht verheiratet sind! Miteinander, meine ich. Wir müssten uns glatt ein Spezialbett anfertigen lassen. Obwohl – deine Susanne ist auch nicht gerade ‘ne Elfe, oder?“
Manfred tut empört.
„Also bitte, ja?! Sie ist so ein schlankes Reh ... Oder wie heißt noch das Tier mit dem langen Rüssel? − By the way: Bist du inzwischen? Verheiratet, meine ich?“
„Nö. Meinem Intellekt konnte noch keiner das Wasser reichen.“
„Ach, komm – genug geblödelt! Hast du schon gehört, deine alte Liebe ist wieder aufgetaucht.“
„Welche alte Liebe? Ich meine, welche von den vielen?“
„Och Mensch, Max! Ich weiß ja nicht, wie viele du hattest, aber ich weiß von einer ...“
„Du sprichst von deinem Kumpel Karl, oder?“ Angewidert schiebt Max die Kartoffeln auf ihrem Teller nach hinten.
„Bah, ist das wieder ein Fraß hier ...“
„Bei deinen Kumpels im Knast schmeckt es bestimmt nicht halb so erlesen wie hier.“ Manfred kaut auf einem Stück Schnitzel.
„Das ist ein Grund, dort nicht zu landen“, meint Max und nimmt sich den Salat vor. „Was meinst du mit ‚aufgetaucht‘? Du sprichst doch von Karl, oder?“
Manfred nickt. „Ja, er ist wieder da.“
„Wie – wieder da. Wo war er denn? Also, mein letzter Stand ist, dass er seit Jahren eine Professur hier an der Uni hat?“
Manfred guckt ungläubig.
„Du hast das alles nicht mitgekriegt?“
„Ja, was denn? Nun erzähl schon, mach es nicht so spannend!“
Manfred schiebt sein Tablett zur Seite und wischt sich den Mund mit der Serviette ab.
„Alsoooo ...“, holt er aus.
„Mein Gott, Fred, mach‘s kurz! Ich hab‘ nicht so viel Zeit, meine Pause ist gleich rum. Also was!?“
„Karls Frau ist doch vor ungefähr einem Jahr tödlich verunglückt, und ...“
„Waaaas!? Das hab‘ ich ja gar nicht mitgekriegt!“
„In dem Fall liest du wohl keine Zeitung. Vielleicht warst du auch im Urlaub, es war jedenfalls irgendwann um Ostern ‘rum.“
Jetzt schiebt auch Max ihr Tablett auf die Seite, an Essen denkt sie nicht mehr.
„... also: Tödlich verunglückt, und als Karl das erfahren hat, ist er mitten aus der Vorlesung raus, hat die Uni verlassen und nie wieder betreten.“
Max guckt Manfred groß an.
„Ach du liebe Zeit. Ich hatte ja keine Ahnung.“
Manfred nickt.
„Kein Mensch weiß, was in ihm vorgegangen ist, jedenfalls hat er weder in sein Haus noch in die Universität je wieder einen Fuß gesetzt. Er hat auch nie mehr gesprochen, nicht ein einziges Wort. Er ist nur noch draußen herumgelaufen und hat auf Parkbänken geschlafen. Eine Weile hat man gedacht, er sei irgendwie komplett durchgeknallt.
Na ja, auf eine Art ist er das ja auch, er hat seitdem mit keinem mehr Kontakt aufgenommen. Seine Familie hat wohl lange überlegt, ob sie ihn einfangen und irgendwo einweisen lassen sollen. Sie haben ihn auch öfter zu sich nach Hause geholt, damit er ein Dach über dem Kopf hat, aber morgens war er gleich wieder weg. – Inzwischen munkelt man, der Unfall sei gar kein Unfall gewesen ...“
Fassungslos guckt Max Manfred an.
„Kein Unfall gewesen?“
„Es hieß, irgendwer habe sich an den Bremsen des Autos zu schaffen gemacht.“
„Ach du großer Gott! Kinder hat Karl aber keine, oder?“
„Nein, Gott sei Dank nicht. Seine Schwester, die, die den Ossi geheiratet hat, du erinnerst dich? Die hat sich immer mal gekümmert. Aber so richtig helfen konnte ihm keiner.“