Karl ist entsetzt aufgesprungen und zurückgewichen, er starrt fassungslos auf das, was sich vor ihm abspielt.
Auch Mickey ist erschrocken zur Seite gesprungen und glotzt verschlafen auf die Szene. Endlich kapiert er, dreht sich um und macht sich eilig davon.
Zwei Leute haben Finch vom Boden hoch gezerrt und halten ihn fest. Zwei andere schlagen abwechselnd auf ihn ein.
Weitere Vermummte stehen herum. Grölend feuern sie die beiden an.
Finch hat inzwischen ein durchdringendes Geschrei angestimmt: Jede Art Flüche, Hilferufe und lautes Gebrüll wechseln sich ab.
Karl weiß nicht, was er tun soll. Er starrt auf das, was dort vor sich geht. Dann wieder schaut er suchend um sich. Die anderen sind inzwischen verschwunden oder eifrig dabei, sich davon zu machen. Hilfe ist nicht in Sicht.
Langsam bewegt sich Karl nach hinten auf eine halbhohe Steinmauer zu. Rückwärts stößt er dagegen. Ohne das Geschehen aus den Augen zu lassen, versucht er, mit den Fingerspitzen hinter seinem Rücken einen Stein zu fassen und heraus zu lösen. Schließlich gelingt es ihm, einer der oberen Steine liegt locker, daneben ein weiterer. Mit einem Stein in der rechten Hand und einem in der Linken bewegt er sich zögernd vorwärts auf die Gruppe zu.
Sein Kumpel blutet aus dem Mund, aus beiden Nasenlöchern und aus dem rechten Ohr. Das Schreien hat er inzwischen aufgegeben. Sein rechtes Bein ist unnatürlich verdreht. Ein breitschultriger Typ hält Finchs linke Hand nach vorn; er versucht, Finch zu zwingen, seine Faust zu öffnen.
Karl sieht den anderen Kerl daneben mit einer Drahtschere in der Hand. Er begreift: Die Typen sind im Begriff, Finch die Finger abzutrennen!
Da wird Karl von hinten gepackt. Seine Oberarme werden fest an seinen Oberkörper gepresst.
Karl windet sich hin und her, um den Angreifer los zu werden. Er lässt die Steine fallen, um sich besser wehren zu können; einer davon fällt dem Kerl direkt auf den Fuß. Der brüllt los.
Andere werden aufmerksam und stürzen herbei.
Zwei Riesen kommen auf Karl zu. Sie packen ihn und verdrehen ihm die Arme so, dass er sich nur noch vornüber beugen kann, das Geschehen um sich herum kann er nicht mehr sehen. Ihm wird schlecht vor Schmerzen; vor seinen Augen flimmert es. Gleichzeitig mit Finchs erneut einsetzendem unmenschlichen Schreien hört er ein sattes ‚Klonk‘, das wie eine gedämpfte Glocke klingt. Im nächsten Augenblick wird alles um ihn schwarz.
Michaela
Nervös trommelt Michaela mit ihren Fingern auf die Fensterbank, während sie mit der anderen Hand das Telefon fest an ihr Ohr presst. In Abständen hört sie das Tuten als Signal, dass der Ruf durch geht, sich am anderen Ende aber keiner meldet.
Nun tritt sie vom Fenster weg an ihren Schreibtisch, schiebt unruhig einige Papiere darauf hin und her. Durch die Tür des Büros verschwindet gerade ihre Kollegin Suse, die ihr eben noch freundlich zuzwinkert, dann die Tür hinter sich schließt.
„Danke, Suse, dass du mir Bescheid gesagt hast!“, ruft Michaela hinter ihr her. Sie drückt auf die Aus-Taste des Telefons und legt es auf den Tisch.
Versunken beginnt sie, in ihrem Büro auf und ab zu gehen, ruhelos, den Blick zu Boden gerichtet. Als das Telefon plötzlich klingelt, erschreckt sie sich fast. Sie stürzt zum Tisch, hebt es hoch und nimmt nach einem kurzen Blick auf das Display das Gespräch an.
„Gott sei Dank, dass du anrufst, ich dachte schon ...“, legt sie gleich los, ohne sich erst noch umständlich mit Namen zu melden. Als ihr Gegenüber etwas äußert, hört sie kurz zu, antwortet: „Nein, entschuldigen Sie, Herr Neugebauer, ich dachte, es sei mein Mann, der zurückruft – ist er denn da? ... Ja, ich warte!“
Michaela beißt nervös auf ihrer Unterlippe herum, blättert fahrig durch umherliegende Unterlagen, geistesabwesend.
Endlich meldet er sich.
„Ja, hallo! Gut, dass du da bist! Du, die Polizei hat angerufen, Karl liegt im Krankenhaus, jemand hat ihm mit der Eisenstange eins übergezogen ...“, platzt es aus ihr heraus. „Ja, eine Eisenstange! Ich weiß auch nicht ...“
Michaela nimmt ihre Wanderung durch das Zimmer wieder auf.
„Nö, keine Ahnung ... Ach, diese Leute prügeln sich doch auch ohne Grund, wer weiß ... Nein, Lebensgefahr besteht wohl nicht, haben sie gesagt.“ Sie lauscht in den Hörer.
„Nein, brauchst nicht mitkommen, ich wollte bloß Bescheid sagen ... Ja, ist gut. Bis nachher!“, beendet sie das Gespräch, legt das Telefon weg.
Erneut tritt sie ans Fenster, schaut gedankenverloren auf die Straße, von der durch die Scheiben gedämpft leise Verkehrsgeräusche zu hören sind.
„Verdammt“, sagt sie leise. „Verdammt.“
Träume
Licht hinter den Lidern, jemand fasst seine Hand. Berührung. Sein ganzer Körper umhüllt von Stoff, riecht wie saubere Laken – ist das ein Traum? Etwas piept fortwährend – eine Maschine? Eine Klinik? Er will sich aufrichten – unmöglich. Festgebunden. Sie haben ihn festgebunden, Panik steigt in ihm auf – und wenn er nun doch in der Psychiatrie gelandet ist? Verzweifelt versucht er, seine Hände frei zu bekommen.
„Sehen Sie: Er randaliert“, stellt eine Stimme nüchtern fest. „Wenn Sie mir garantieren können, dass er liegen bleibt, mache ich ihn los.“
„Nein, das kann ich nicht“, kommt zögernd leise die Antwort. „Ich kann gar nichts garantieren, wie soll ich denn. Er war ja immer so wild ...“
Karl hat keine Mühe zu erkennen, wer da spricht: Es ist Michaela, seine kleine Schwester. Sie war zehn, trug ihr braunes Haar zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten und hatte ein Kleid an, und er war – wie alt?
„Ich will nie so werden wie du, Jungs sind immer so wild“, hatte sie zu ihm gesagt.
Und was macht sie jetzt hier?
Karl stöhnt; er weiß nicht, ob wegen seiner Schmerzen oder wegen seiner Schwester, verschwommen hofft er, dass das hier nur ein schrecklicher Traum ist.
„Ich sag es Mama!“, gellt es hinter den Schleiern seiner Erinnerung. Seine kleine Schwester ist von jeher eine Nervensäge gewesen, mit wenig Intelligenz ausgestattet, dafür mit einem starken Nervensystem und ebensolchem Willen. Ihre Zähigkeit und Unbeirrbarkeit, wenn sie etwas für richtig hielt, verliehen ihr eine Ausdauer, die weit und breit ihresgleichen suchte. Und alle nervte.
Dieses Elend ist nun – als Traum oder Wirklichkeit – wieder in seiner Nähe aufgetaucht. Und lässt sich nicht ignorieren.
Später vielleicht nicht, befindet er, jetzt schon. Er begibt sich auf weitere innere Suche. Saubere Laken, Klinik, Michaela, so weit ist er schon. Aber wie ist er hier hergekommen? Was genau ist seine Situation? Er weiß es nicht, sieht nur gähnende Leere.
Immerhin weiß er, wer er ist. Auch, was er in seinem Leben getan oder nicht getan hat – oder? Das Meiste jedenfalls, so scheint es ihm. Das ist ja schon mal was. Fürs Erste bleibt er bei sich: Er schweigt. Begibt sich anhand seines Atems leise schwebend zurück in die Tiefe. Erst mal.
Eingeliefert
Wie zwei Racheengel erscheinen sie an seinem Krankenbett, Seite an Seite. Der eine ärztlich in Weiß, mit durchaus freundlichem Blick, der andere schwesterlich in grau-braun-lodenem Outfit, ihrem ewigen Trachtenlook. Es kommt Karl vor, als sei sie schon als Fünfjährige in derartiger Uniform herumgestiefelt. Passend gestaltet sich ihr Mienenspiel: Energisch entschlossen, mit besserwisserischen Untertönen.
Karl ist gerade beim Essen. Eine freundliche Schwester hat ihm das Tablett auf den schwenkbaren Teil des Nachttischs platziert. Karl löffelt Eintopf. Gerade führt er den Löffel zum Mund, nun bleibt der Löffel auf halbem Wege in der Luft stehen.
„Nun, Herr Dr. Arens“, beginnt der ärztliche Racheengel sein Plädoyer,