„Meine Ehre heißt Treue.“
Martin Haberkorn, 24. Februar 1945, Hamburg
Martin Haberkorn hatte gegen den Willen der Ärzte seine Entlassung vor zwei Tage durchgesetzt. Bei dem Fliegerangriff auf das Boot war er von einem aus dem Turmschanzkleid herausgerissenen Sprengstück am Kopf getroffen worden. Die anfängliche Vermutung einer schweren Gehirnerschütterung war prinzipiell richtig gewesen, allerdings war es auch zu einer kleineren Einblutung unter der Schädeldecke gekommen. Der dadurch entstandene Druck auf das Gehirn hatte ihn für etliche Tage vollkommen außer Gefecht gesetzt, und die Ärzte waren recht besorgt über seinen Zustand gewesen. Glücklicherweise waren keine Gefäße schwerwiegend in Mitleidenschaft gezogen worden, und er dämmerte unter der Einwirkung von Schmerz- und Beruhigungsmitteln im Bett vor sich hin. Die Einblutung war ein temporärer Zustand gewesen, und dann nach einigen Tage verschwunden. Haberkorn fühlte sich schnell wieder besser und drängte auf seine Entlassung. Es trieb ihn in das Boot zurück und sein LI hatte ihn informiert, dass die bei dem Luftangriff entstandenen Schäden mehr äußerlicher Art gewesen wären und die Funktionen nicht beeinträchtigen würden. Momentan, hatte der Offizier noch berichtet, würde das Personalamt Ersatz für die ausgefallenen Besatzungsmitglieder suchen, aber das sollte in den nächsten Tagen durch Abkommandierungen von anderen Booten erledigt sein. Man würde in Bezug auf die Einsatzfähigkeit des Bootes noch ein paar Restarbeiten durchführen müssen, aber der Überwasserantrieb hätte ja, trotz des dramatischen Zwischenfalls, ganz gut funktioniert. Alles in allem könnte man in drei Tagen eine weitere Erprobungsfahrt unternehmen, die diesmal einen Abstecher in die offene See im Programm hätte, um die Eigenschaften des Bootes unter diesen Bedingungen feststellen zu können. Leider würde es noch keinen Tieftauchversuch geben können, denn die Werftgrandis würden wie sture Böcke auf der Abarbeitung ihrer Prüfliste bestehen. Und nach der wäre das Prüfungstauchen noch lange nicht dran.
Haberkorn fieberte dem Auslaufen tatsächlich entgegen. Als das Boot dann die Fahrrinne der Elbe erreicht hatte erfasste ihn eine gewisse Vorfreude. Das Wetter war schlecht, es war diesig mit einem tiefhängenden Wolkenhimmel. Für den heutigen Tag war das günstig, feindliche Flugzeuge würden bei diesen Bedingungen nicht aufsteigen können. Der Luftangriff saß Haberkorn noch in den Knochen, vor allem, weil vier Mitglieder der Besatzung und einer der Werftingenieure bei der ersten Probefahrt getötet worden waren. Dass das kurz vor Hamburg passiert war zeigte die ganze Löchrigkeit der deutschen Luftverteidigung und auch, dass die Luftherrschaft schon längst verloren gegangen war. Der LI stand neben Haberkorn auf der Brücke.
„Na da wollen wir heute mal unsere Diesel vorsichtig ein bisschen einfahren“ versuchte der Ingenieur ein Gespräch in Gang zu bringen „und wenn wir mit 12 Knoten weiterlaufen könnten wir in fünf Stunden bei Cuxhaven in der Nordseemündung sein. Klingen bis jetzt eigentlich gut, die Maschinchen.“
Einfahren dachte Haberkorn, diese mächtigen Aggregate, von denen jedes 2.000 PS leisten konnte, wären erst nach einigen tausend Seemeilen richtig eingelaufen, denn sie waren auf lange Betriebsdauer ausgelegt. Theoretisch konnte der Typ XXI 15.500 Seemeilen oder umgerechnet 29.000 Kilometer auf einer Reise zurücklegen, das waren dreiviertel des Erdumfangs. Die Motoren würden ihre Leistung bei 522 Umdrehungen in der Minute abgeben, das waren in einer Stunde 31.320, bei, nur um einmal eine Größenordnung zu berechnen, 14 Stunden am Tag Überwasserfahrt, 438.480. Die jeweils sechs Kolben der beiden Maschinen wuppten in ihren Zylinderlaufbuchsen ohne Pause up and down und brachten die Kraft auf die Wellen. In Bezug auf die Antriebsmaschinen machte sich Haberkorn nur wenig Gedanken, das war bewährte Technik. Kritischer war seiner Meinung nach die Frage, ob der Druckkörper dicht war. Das entsprechende Prüfprogramm sollte erst dann stattfinden, wenn das Boot absolut sicher zu manövrieren war, und die Aggregate bei Überwasserfahrt ausgiebig getestet worden waren. Die E-Maschinen sollten bei Überwasserfahrt zeitweise zugeschaltet werden, um deren Funktionssicherheit zu überprüfen. Der Typ war neu und grundsätzlich anders konstruiert als die Vorgänger. Dazu kam das bislang ungewohnte Fertigungsverfahren über den Sektionsbau. Der Druckkörper hatte etliche Durchleitungen. Im Turm für die Ausfahrgeräte, für die Funkerei, für die Torpedorohre in Bug und Heck, die Antriebswellen, die Auspuffklappen, für die verschiedenen Luks. Absolute Dichtigkeit konnte niemand garantieren, und wurde auch gar nicht erwartet. Dafür war die Bilge da, die regelmäßig abgepumpt wurde. Dort sammelte sich eingedrungenes Wasser, welches sich mit Ölresten und anderen kleineren Abfällen zu einer übelriechenden Masse vermischte. Die Männer an Bord waren ohnehin mit der Zeit gegen den Gestank immun geworden, er gehörte zu ihrem Leben an Bord einfach dazu. In dem neuen Typ hatten die Konstrukteure aber eine ganze Reihe von Verbesserungen für die Mannschaft verwirklicht. Nahezu jeder der Männer hatte nun eine eigene Koje für sich und musste sich nach dem Wachwechsel nicht mehr dem Mief der vorher von einem anderen Matrosen belegten Schlafstätte aussetzen. Es gab richtige Waschräume, Duschen, einen Tank für die Fäkalien. Das hieß auch, dass die Benutzung der WC theoretisch in allen Tiefen möglich war. Natürlich wurde acht darauf gelegt die Toiletten möglichst nicht bei Unterwasserfahrt zu benutzen, das war in den anderen Bootstypen immer mit einem Risiko verbunden. Tatsächlich hatte es Tauchunfälle wegen der falschen Bedienung der Pumpen gegeben. Falsch geöffnete Pumpen um die Scheiße außenbords zu bringen als Ursache für den Heldentod konnte man ja schlecht als Verlustursache angeben dachte Haberkorn missmutig, da brauchte die Propaganda ganz andere Erzählungen.
Das Boot rollte und stampfte nach dem Passieren von Cuxhaven durch die aufgewühlte See. Die Männer der Brückenwache hatten ihre Sicherheitsgurte eingeklinkt, denn die See kam über, und die Brückenwanne stand öfter bis zu halber Höhe unter Wasser. Haberkorn vertraute bei solchem Wetter auf den „Großen Seehundanzug“. Unter dem Gummizeug und dem Hut trug er zwei Schichten Wäsche: die normale und ziemlich legere Bordbekleidung und darüber einen dicken Pullover. Dieser löste sich an manchen Stellen durch die lange Beanspruchung schon etwas auf, aber unter der Gummihaut sah ihn ja niemand. Um den Hals hatte er ein schmales Handtuch geschlungen, um das Eindringen des Wassers dort zu verhindern. Die klobigen Seestiefel standen ohnehin immer schnell unter Wasser, also hatte er bei diesen auf Schutz verzichtet. Auf einem U-Boot herrschten grundsätzlich verschiedene Extreme. Unter Deck liefen die Diesel und erzeugten große Abwärme. Die Anzugsordnung der Maschinisten in dieser Abteilung war vor allem durch das Tragen von ölfleckigen und vergammelten kurzen Unterhemden geprägt. Diese Sachen waren sozusagen das Markenzeichen der Motorenmänner. Eine Abteilung weiter, im E-Maschinenraum, ging es deutlich sauberer zu. Dem Schein nach gab es immer einen Konkurrenzkampf der Leute beider Abteilungen darum, welche Maschinenart die größeren Spezialisten erforderte. Beide Antriebsarten waren aber unverzichtbar. Der Diesel würde erst dann wegfallen, wenn es einen richtigen außenluftunabhängigen Antrieb geben würde. Haberkorn hatte mit dem LI darüber auch in der Messe an Land gefachsimpelt.
„Eigentlich gibt es doch keinen großen Unterschied zu den Booten in der Zeit von 1914 bis 1918“ war der LI der Meinung gewesen „die sind zwar noch mit Petroleum gefahren, aber eben auch mit einer Verbrennungsmaschine. Gut, unsere Diesel sind viel leistungsfähiger und sicherer als die Aggregate damals, aber es ist und bleibt das gleiche Arbeitsprinzip. Die sozusagen im Dieselkraftstoff eingeschlossene Energie wird durch die Verbrennung schlagartig freigesetzt, und diese dann durch den ganzen komplizierten mechanischen Aufbau über Getriebe und Kupplungen und so weiter in Bewegungsenergie umgewandelt. Zweifellos ist der Diesel eine effektive Maschine, aber es bleibt doch eben viel Energie auf der Strecke, hauptsächlich durch die Reibung. Da ist noch einiges an Potential drin, man muss es bloß durch Weiterentwicklungen