„Du bist, du bist ein Geist?“, stotterte sie. „ Aber wie kommst du hier her?“
„Du bist selbst daran Schuld“, antwortete das Geistermädchen. „Warum hast du mich auch gestört? Fast am Auge hättest du mich getroffen, mit deinem blöden Mantelgeschwenke. Was sollte das denn werden, mitten in der Nacht?“
„Ich wollte meine Warzen weg zaubern“, gab Nina kleinlaut zu.
Von der Zimmerdecke hallte ein lautes Lachen.
„Was wolltest du? Jedes Baby weiß doch, dass man nicht zaubern kann.“
„Jedes Baby weiß auch, dass es keine Geister gibt“, entgegnete Nina beleidigt. „Also kann vielleicht auch mal was falsch sein, was man weiß.“
Das Geistermädchen schwebte langsam auf Ninas Bett zu und ließ sich nieder.
„Du bist ja richtig klug für einen Menschen. Es kann manchmal wirklich etwas falsch sein, was man weiß. Ich bin übrigens Henriette.“
Das Geistermädchen streckte Nina die Hand entgegen, die jedoch ängstlich ein Stück näher an die Wand rückte. Womöglich würde sie sich auch in einen Geist verwandeln, wenn sie sich von diesem Mädchen anfassen ließ.
„Hab keine Angst, ich tu dir nichts“, lachte Henriette. „Weil du mich nun schon einmal geweckt hattest auf meinem Friedhof, war mir langweilig und ich wollte mal sehen, wie du so lebst.“
Nina schluckte, ihr war gerade etwas eingefallen.
„Wenn du wirklich ein Geist bist, bist du dann, bist du dann etwa schon gestorben?“
„Vermutlich“, nickte Henriette ungerührt.
„Aber wie, warum? Du bist doch noch ein Kind.“
„Ich weiß es nicht“, sagte das Geistermädchen einfach.
Nina wurde es immer unheimlicher. „Du weißt es nicht? Wie kannst du es nicht wissen, wenn dir so etwas Schlimmes passiert ist?“
Henriette dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf.
„Es ist eigentlich sonnenklar, dass ich mich nicht erinnere. Du bist doch ein Mensch, oder?“
„Klar, bin ich ein Mensch.“ Nina nickte.
„Dann bist du also geboren?“ Nina nickte wieder.
„Und, kannst du dich daran erinnern?“, fragte Henriette triumphierend. „War es schlimm, geboren zu werden?“
„Ich weiß es nicht“, sagte jetzt Nina. „Tatsächlich, ich bin zweifellos geboren und weiß es nicht.“
„Genauso ist es“, stimmte Henriette zu. „Man weiß es einfach nicht.“
Die beiden Mädchen lächelten sich an. Nina fürchtete sich nicht mehr. Sie streckte dem Geistermädchen die Hand entgegen.
„Ich bin Nina. Schön, dass du mich besuchst.“
Die beiden schüttelten sich die Hände und Nina bemerkte erstaunt, dass sich Henriette fast wie ein Mensch anfühlte, ein bisschen kälter vielleicht.
„Warum kann ich dich anfassen?“, fragte sie neugierig.
„Ich kann bestimmen, wie ich sein will und wo ich sein will“, antwortete Henriette. „Aber jetzt muss ich zurück, die weiße Fee ruft nach mir.“
„Wer ist das denn?“, wollte Nina gerade fragen, da bemerkte sie, dass das Geistermädchen verschwunden war. Nina knipste ihre Lampe an, um genau nachzusehen, aber Henriette hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
Warum Nina schrecklich weinen muss und Henriette furchtbar traurig ist
Am Montagmorgen kam Nina erst mit dem Klingelzeichen in die Klasse. Atemlos warf sie ihre Tasche unter die Bank und ließ sich auf den Stuhl sinken.
Der Platz neben ihr war leer. Vielleicht hatte Susi in der Nacht auch Besuch vom Geistermädchen gehabt und war nun zu müde, um in die Schule zu kommen.
Aus der hinteren Bankreihe vernahm Nina ein bekanntes Kichern und als sie sich umdrehte, sah sie, dass Susi doch gekommen war. Sie saß aber nicht auf dem Stuhl neben ihr, wo sie hingehörte, sondern in der letzten Reihe neben der eingebildeten Michelle.
Die beiden Mädchen steckten gerade vertraulich die Köpfe zusammen und lachten leise.
Nina gab es einen Stich. Noch ehe sie sich entschlossen hatte mit Susi zu sprechen, öffnete sich die Tür und Frau Reichelt betrat die Klasse. Der Unterricht begann.
Nina hoffte, die Lehrerin würde Susi zurück auf ihren Platz rufen. Wo gab es denn so etwas, dass sich Kinder mitten im Schuljahr einfach umsetzten? Nichts geschah. Die Stunde verging, ohne dass überhaupt jemand zu merken schien, dass Susi plötzlich neben Michelle saß.
Nur Alexander fragte als es zur Pause klingelte: „ Eh, Susi, warum musst du denn hinten sitzen? Habt ihr zu viel gequatscht?“
„Ich muss überhaupt nicht“, sagte Susi und setzte laut und deutlich hinzu, „es gefällt mir hier einfach besser.“
Nina starrte sie entsetzt an. Sie konnte kaum glauben, was sie da eben gehört hatte. Ihre allerallerbeste Freundin seit dem Kindergarten, setzte sich ausgerechnet neben die blöde Michelle, weil es ihr dort besser gefiel!
Langsam schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. Keiner beachtete sie, als sie aus der Klasse ging. Gerade noch rechtzeitig, bevor ihr dicke Tränen übers Gesicht liefen, schloss sie die Tür.
So schnell sie konnte, rannte sie zur Mädchentoilette, vergrub ihren Kopf in den Armen und weinte.
Es war einfach alles zu viel für sie: die Angst in der Nacht, die Enttäuschung der Eltern, der Geist und jetzt auch noch Susi. Laut schluchzend ließ sie sich auf die Toilette sinken.
„Warum weinst du denn so?“, hörte sie eine Stimme hinter der Tür, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Ein weißer Nebel quoll langsam durch den schmalen Spalt zwischen Wand und Decke, um gleich darauf die Gestalt des Geistermädchens anzunehmen. Mitfühlend beugte sie sich über Nina und strich ihr übers Haar.
„Musst du auch von zu Hause weg?“, fragte sie besorgt.
Nina wischte ihre Tränen ab.
„Wieso von zu Hause weg? Wie kommst du denn auf so etwas?“
„Und warum heulst du dann?“, fragte das Geistermädchen und schwebte langsam zu Boden. „Ich müsste heulen!“
Nina stand auf.
„Wieso das denn? Sind deine Freunde auch so gemein zu dir?“
„Freunde“, Henriette dehnte das Wort ungewöhnlich lang. „Wenn’s nur das wäre. Ich habe bald überhaupt nichts mehr: keine Freunde, kein Zuhause und was das Allerschlimmste ist“, jetzt fing auch das Geistermädchen an zu schluchzen, „keine, keine weiße Fee.“
Nina hob die Hand, um Henriette tröstend in den Arm zu nehmen. Aber diesmal fasste sie durch sie hindurch.
„Aber warum? Was ist denn passiert?“, fragte sie ratlos.
„Na ja, ich bin gewissermaßen“, druckste das Geistermädchen herum, „durch eine Prüfung gefallen. Verstehst du, ich muss das ganze Schuljahr wiederholen.“
„Und deshalb schickt dich deine weiße Fee einfach weg?“, fragte Nina fassungslos. Soweit sie verstanden hatte, war die weiße Fee so etwas wie die Mutter des Geistermädchens. Konnte sie wirklich so herzlos sein und ihr Kind weggeben, nur weil es sitzen geblieben war?
„Sie schickt mich doch nicht freiwillig weg“, entgegnete Henriette ungeduldig.
„Es gibt Gesetze, verstehst du? Alle Schüler, die das Klassenziel nicht erreichen, schickt der Große Rat für ein Jahr in ein Internat. Wenn sie es dann geschafft haben, dürfen sie wieder zurück zu ihren Familien. Sag bloß, so etwas gibt es bei euch nicht. Was passiert mit euch, wenn ihr die Prüfungen nicht schafft?“
„Man